Strafversetzt nach Gernsbach – Ernst Ludwig Posselt, Beamter wider Willen
„Die hiesige Stelle ist mir gegen meinen Willen zugetheilt worden“, schrieb Ernst Ludwig Posselt, Amtmann in Gernsbach zwischen 1791 und 1796, an die badische Regierung. Der 1763 in Durlach geborene Posselt, Historiker, Jurist, Autor und Pionier des politischen Journalismus, hielt es als Beamter in der Provinz nicht lange aus. Der Posten war nicht gerade als Karrieresprungbrett für einen Freigeist und Sympathisanten der französischen Revolution geeignet. Seine Amtszeit hatte für Gernsbach keine größeren Auswirkungen, wirft aber ein Schlaglicht auf Gernsbacher Verhältnisse.
Der hochbegabte Beamtensohn Ernst Ludwig Posselt (1763-1804) schloss sein Rechts- und Geschichtsstudium in Göttingen und Straßburg 20-jährig mit der Promotion ab und arbeitete zunächst als Advokat, dann als Lehrer am Gymnasium in Karlsruhe und als Privatsekretär von Markgraf Karl Friedrich. Im Zusammenhang mit seinen Äußerungen über die französische Revolution, deren liberale Ideen er vertrat, wurde er als Amtmann in die Provinz nach Gernsbach versetzt. Schon am Anfang zeigte sich, dass Posselt seinen eigenen Kopf hatte. In der Beamtenwohnung im Amtshaus (am Ort des heutigen Amtsgerichts Gernsbach) wollte er nicht logieren. Daher gestand ihm die Regierung am 20. Oktober 1791 einen Zuschuss von 100 Gulden zu, um sich anderswo einzumieten.
Siegmund Friedrich Gehres (badischer Beamter und Verfasser einiger Ortschroniken), Bekannter und Biograf Posselts, meinte 1827, das Gernsbacher Amt sei ein Posten gewesen, wo Posselt „in Amtsgeschäften nicht sehr viel zu tun hatte“. Diese Einschätzung deckt sich mit den Äußerungen des Amtmanns Friedrich August Roth aus dem Jahr 1787, der meinte, die Amtsgeschäfte nähmen kaum ein Achtel seiner Zeit in Anspruch, er wisse die Zeit nicht herumzubringen, wenn der Streit mit Speyer nicht wäre! Der Streit mit dem Fürstbischof von Speyer (Mitregent in Gernsbach, Scheuern und Staufenberg bis 1803) um die Besetzung der Stellen an den Kirchen und Schulen zog sich von 1771 bis 1803 hin. Der Streit fand auch in der Ernennungsurkunde Posselts umfangreiche Erwähnung und führte unter anderem zu der Anweisung, falls ein speyerischer Vogt nach dem Tod eines evangelischen Pfarrers dessen Wohnung versiegelt habe, sei das speyerische Siegel umgehend zu entfernen und stattdessen das badische anzubringen. Andere Gebiete, die Posselt beaufsichtigen sollte, waren die Schulen und die Polizei, die aus einem Polizeidiener und vier Stadtsoldaten bestand und besonders dem „übermäßigen Zechen und verderblichen Spielen“ Einhalt gebieten sollte. Weiterhin sollte der Amtmann auch auf die Schonung des durch Übernutzung geschädigten Stadtwalds dringen, worum sich aber bereits ein von Karlsruhe ernannter Waldmeister kümmerte.
Etliche in der Ernennungsurkunde aufgeführte Aufgaben definierten wohl eher eine Art Oberaufsicht, ohne direkte Maßnahmen zu erfordern. Schon 1792 klagte Posselt, ohne seine Schriftstellerei würde er „Foltern der Langeweile“ erleiden! Auch in Gernsbach veröffentlichte er jedes Jahr eine oder mehrere Schriften über historisch-politische Themen. 1793 verfasste er eine Abhandlung über den Prozess gegen König Ludwig XVI. von Frankreich, 1794 begann er sein Taschenbuch für die neueste Geschichte in zehn Bänden und die Monatsschrift „Europäische Annalen“, die bei Cotta in Tübingen verlegt wurde und bald als bestes politisches Journal im deutschsprachigen Raum galt. Daneben plante er 1794, allerdings ohne Erfolg, gemeinsam mit dem Dichter Friedrich Schiller ein mehrmals wöchentlich erscheinendes politisch-literarisches Magazin in Rastatt herauszugeben. 1796 übersetzte er in kurzer Zeit das 1795 erschienene Werk des französischen Aufklärers Marquis de Condorcet „Entwurf eines historischen Gemäldes der Fortschritte des menschlichen Geistes“. Bald kam dem Markgrafen zu Ohren, Amtmann Posselt vernachlässige seine Pflichten. Auf eine Anfrage hin bestätigte Oberamtmann Joseph von Lassolaye die Gerüchte und klagte Ende 1795, Posselts Amtsführung sei „unordentlich und sorglos“, die Polizei werde „vernachlässigt“, und überhaupt werde eine „Sittenlosigkeit und Schwelgerey“ geduldet, die für „eine ganze Generation die verderblichsten Folgen“ habe. Posselt lies in seiner Rechtfertigung durchblicken, das Gernsbacher „Publicum“ verliere ihn ungern. Das ist aufgrund der nicht lange zurückliegenden Vorfälle in der Stadt durchaus vorstellbar.
Um diese Zeit war den Gernsbachern der vom badischen Staat neu eingeführte Polizeidiener ein besonderer Dorn im Auge. Er überwachte als Spitzel der Obrigkeit das sittliche Verhalten der Bevölkerung, besonders den Alkoholgenuss. Das führte 1790 sogar zu einem Aufruhr mit einem nachfolgenden Prozess, in dem Rädelsführer und Beteiligte empfindlich bestraft wurden. Was der Oberamtmann als „Sittenlosigkeit und Schwelgerey“ anprangerte, könnten viele Gernsbacher auch eher als Lockerung einer allzu engstirnigen Überwachung empfunden haben. Posselt selbst scheint, wie der mit ihm befreundete Siegmund Friedrich Gehres erwähnt, den geistigen Getränken nicht ganz abgeneigt gewesen zu sein. Bürgerliche Zwänge kümmerten ihn nicht. Seine Frau, die Tochter eines Grenadiers, galt in höheren Beamtenkreisen als nicht standesgemäß. Trotz der gesellschaftlichen Nachteile hielt Posselt aber an ihr fest.
Anfang 1796 hatte Posselt das Beamtendasein endgültig satt. Er suchte um seine Entlassung nach, wobei er darauf hinwies, dass er die ungeliebte Stelle in Gernsbach nur angenommen habe, um seine Loyalität gegenüber dem Landesherrn zu beweisen. Dabei kam er auch ganz unverblümt auf sein Gehalt zu sprechen. Als Amtmann habe man ihm 550 Gulden und Naturalien im Wert von 250 Gulden jährlich versprochen (der 17 Jahre ältere, ranghöhere Lassolaye verdiente 600 Gulden zuzüglich Naturalien), also genau so viel, wie er vorher als Sekretär des Markgrafen verdient habe. Die Naturalleistungen seien aber nur 150 Gulden wert, wodurch er in den letzten vier Jahren bereits 400 Gulden verloren habe. „Doch ich rede nicht blos vom Geld Interesse“, fuhr Posselt selbstbewusst fort. Er suche vielmehr „eine Stelle in wissenschaftlichen oder gelehrten Sachen, die meinen Neigungen und Kenntnissen entspricht“. Es gebe, so führte er aus, ja noch nicht einmal eine „in der wahren historischen Manier geschriebene badische Geschichte“! Karl Friedrich wusste den Wert dieses geistig außerordentlich produktiven und sogar im Ausland renommierten Untertanen zu schätzen. Er entband Posselt von seinem Amt in Gernsbach, ernannte ihn zu einem Legationsrat im Rang eines Hofrats und gewährte ihm bis auf weiteres ohne bestimmte Gegenleistung eine jährliche Besoldung von 264 Gulden zuzüglich Naturalien, darunter etwa 1100 Liter Wein „erster Classe“. Dabei war Posselt gar nicht darauf angewiesen. Er hinterließ ein Vermögen von etwa 50.000 Gulden, das er zum größten Teil, für damalige Verhältnisse ungewöhnlich, durch seine Arbeit als Autor, Publizist und Redakteur verdient hatte.
Posselt starb 1804 in Heidelberg nach dem Sturz aus einem Fenster. Ob es Selbstmord war, wie mehrfach behauptet, ist fraglich. Eine andere Erklärung lautet, er habe sich zu weit hinausgelehnt und auf dem gewachsten Boden den Halt verloren. Seine zahlreichen historischen und politischen Werke werden teilweise noch heute nachgedruckt. Er gab eine der ersten modernen Tageszeitungen heraus und führte eine Neuerung im Zeitungswesen ein, die oft der New York Times zugeschrieben wird, nämlich die Berichtigung eines Fehlers in einer der folgenden Ausgaben. Eine badische Geschichte von ihm liegt nicht vor, aber eine 1792 handschriftlich verfasste Beschreibung des Murgtals. |