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Was die deportierten Gernsbacher in Gurs erwartete
In Macon, an der Demarkationslinie zum unbesetzten Frankreich, empfingen die Franzosen die Züge in der irrigen Meinung, es handele sich um einen Transport ausgewiesener Franzosen aus dem besetzten Elsaß und Lothringen. Die französische Regierung in Vichy war über die Abschiebung der über 6000 deutschen Juden nicht informiert worden, wusste folglich auch nicht wohin mit ihnen. Die Franzosen protestierten scharf bei der deutschen Regierung, jedoch ohne Erfolg. Während dessen saßen die Verschleppten frierend und hungernd in den überfüllten Zügen. Die überrumpelten französischen Behörden suchten fieberhaft nach einer Lösung – und fanden sie im Lager Gurs bei Oloron-Ste-Marie am Fuß der Pyrenäen (nicht weit von dem Wallfahrtsort Lourdes entfernt).
Ursprünglich war das Lager Gurs im Mai 1939 für spanische Bürgerkriegsflüchtlinge errichtet worden und bot Aufnahme für etwa 20.000 Personen. Das ein Quadratkilometer große Lagergelände bestand aus über 400 primitiven Holzbaracken, die rechts und links von einer fast zwei Kilometer langen geteerten Lagerstraße angeordnet waren. Jede dieser Baracken sollte 50 bis 60 Personen aufnehmen. 25 solcher Baracken bildeten einen Block (einen sogenannten Ilot). Männer und Frauen waren in verschiedenen Blocks untergebracht. Im ganzen gab es 13 Blöcke, die durch Gräben und Stacheldraht voneinander getrennt waren, um Kontakte der Blöcke untereinander zu verhindern. (Die Stadt Weinheim zwischen 1933 und 1945, Weinheimer Geschichtsblatt Nr. 38, Hrsg. Stadt Weinheim, Weinheim 2000, S. 503 f). Die Baracken waren 25 Meter lang und fünf Meter breit, das heißt für jeden einzelnen Insassen war ein Lebensraum von zwei Quadratmetern vorgesehen. (Dr. med. Eugen Jizchak Neter s. A. (Degania), Erinnerungen an das Lager Gurs in Frankreich, in: Oskar Althausen u. a., Oktoberdeportation 1940, die sogenannte „Abschiebung“ der badischen und saarpfälzischen Juden in das französische Internierungslager Gurs und andere Vorstationen von Auschwitz; 50 Jahre danach zum Gedenken, hrsg. von E. R. Wiehn, Konstanz 1990, S. 381).
Viele der Deportierten haben schriftlich Zeugnis abgelegt über den Abtransport und die furchtbaren Zustände im Lager Gurs. Es existieren mehr oder weniger umfangreiche Tagebücher, Briefe, Berichte, Gedichte und Erzählungen. Die Literatur zu diesem Thema ist umfangreich. An dieser Stelle soll daher nicht noch einmal versucht werden, die Zustände in Gurs anhand möglichst vieler Quellen möglichst umfassend zu schildern, sondern eine knappe Übersicht gegeben werden anhand von vier ausgewählten Augenzeugen, von denen drei im Zusammenhang mit Gernsbach bzw. der engeren Region stehen:
Ein Kronzeuge der Deportation am 22. Oktober 1940 und der Zustände im Internierungslager Gurs wurde der 1876 in Gernsbach geborene Dr. Eugen Neter. Zum Zeitpunkt der Deportation 1940 arbeitete er als Kinderarzt in Mannheim und war Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Mannheims. Neter wäre eigentlich von der Deportation ausgenommen gewesen, denn er war mit einer Nicht-Jüdin verheiratet. Freiwillig und gegen den Willen seiner Frau begleitete er seine jüdischen Patienten und Gemeindemitglieder auf ihrem Weg ins Lager. Neter berichtet äußerst umfassend und detailliert. Sein Ton bleibt durchweg sachlich-nüchtern und ist um äußerste Objektivität bemüht. Sein Bericht wirkt im Gegensatz zu anderen Aussagen von Betroffenen streckenweise fast emotionslos kühl. Selbst bei unangenehmen Erlebnissen behält er die Fähigkeit, auch eventuelle positive Aspekte zu registrieren. Er ist daher ein sehr vertrauenswürdiger Zeuge, dem jede Übertreibung fern liegt. Im Gegenteil: Seine Tendenz zu ausgedehnten Reflexionen und manchmal sogar fast schon pedantischen Analysen führt eher zu Untertreibungen. Eugen Neter ist einer von denen, die wohl am umfangreichsten und genauesten Zeugnis ablegten über das Schicksal ihrer Mitmenschen im Lager Gurs. Daher werden im Folgenden in der Hauptsache Auszüge aus seinem Bericht angeführt, um zu zeigen, was die Deportierten in Gurs erleiden mussten.
Der einzige der neun aus Gernsbach Deportierten, von dem wir ein schriftliches Zeugnis besitzen, ist Heinz Lorsch, der den Holocaust überlebte, in seine Heimat zurückkehrte und auf dem Friedhof in Kuppenheim begraben ist (s. unten Seite ...). Allerdings ist die dem Stadtarchiv Gernsbach vorliegende handschriftliche Notiz nur sehr kurz.
Zum Vergleich mit Neter und Lorsch sollen daher auch die erst kürzlich der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Aufzeichnungen des Baden-Badener Bürgers Oskar Wolf herangezogen werden. Die jüdische Familie Wolf lebte seit 1910 in Baden-Baden. Vater Oskar Wolf betrieb ein Versicherungsgeschäft. Am 22. Oktober 1940 wurden die Eltern Wolf nach Gurs verschleppt. Die beiden Söhne befanden sich zu dieser Zeit glücklicherweise in England. Während die Mutter den Holocaust überlebte, verliert sich die Spur des Vaters, der wahrscheinlich in Maidanek ermordet wurde. Während der ersten zweieinhalb Monate seines Aufenthaltes in Gurs führte Oskar Wolf ein Tagebuch, das sein Sohn im Herbst 2000 dem Stadtarchiv Baden-Baden übergab. Dieses Tagebuch ist nicht annähernd so detailliert wie die Schilderungen Eugen Neters, aber wiederum viel umfangreicher als die Aufzeichnung des Gernsbachers Heinz Lorsch.
Die Augenzeugin Berty Friesländer-Bloch steht in keiner erkennbaren näheren Beziehung zu Gernsbach. Sie ... (biographische Daten). Dennoch soll sie hier gehört werden – stellvertretend für alle deportierten Frauen und Mütter, von denen wir keine Aufzeichnungen mehr besitzen.
Über die Ankunft und die niederschmetternden ersten Eindrücke der Deportierten berichtet Eugen Neter:
„Der aus guten Personenwagen bestehende Zug brachte uns in zweitägiger Fahrt an unseren Bestimmungsort. Unterwegs wurden die zur Mitnahme bewilligten 100 Reichsmark in 2000 Francs umgewechselt. Spät nachmittags kamen wir in Oloron an, von wo uns Camions (Lastwagen) in kurzer Fahrt ins Camp de Gurs brachten. Es regnete. Der größte Teil des Gepäcks wurde gesondert gefahren. Dies brachte bedauernswerte Schwierigkeiten insofern, als es viele Wochen dauerte, bis es gelungen war, den Eigentümern ihre Koffer und sonstigen Habseligkeiten aus dem zu einem hohen Berg aufgestapelten Gepäck auszusuchen. Viele Sachen blieben vermisst; bei vielen konnten die Besitzer nicht ermittelt werden. Besonders schmerzhaft waren jene Verluste, die dadurch entstanden, dass das Gepäck im Freien lag und dem Regen ausgesetzt war.“ (Althausen, S. 380).
Neters Stil ist so gewählt und akademisch, dass dem Leser fast erst bei genauerem Hinsehen und im Vergleich mit Berichten anderer Augenzeugen die Bedeutung klar wird: Diese Menschen wurden nicht nur enteignet und aus ihrer angestammten Heimat vertrieben. Sie verloren durch mangelnde Organisation, Schikane und Nachlässigkeit auch noch die wenigen Habseligkeiten, die man ihnen erlaubt hatte mitzunehmen. Heinz Lorsch fasst dieselbe Situation viel drastischer zusammen:
„Am Freitagabend 16.10 Uhr kamen wir in Andon? nahe Pau an. Männer und Frauen wurden getrennt, die Koffer mussten wir stehen lassen, dann ging es auf offenen Lastwagen, in strömendem Regen nach Gurs, Fahrt 25 Minuten. Das Gepäck konnten wir nach zwei Tagen auf einem Schuttplatz abholen. Die Koffer waren total aufgeweicht, bei vielen Leuten war der Inhalt kaputt.“
Das Lager selbst hinterlässt bei Heinz Lorsch einen deprimierenden Eindruck:
„Im Lager war es unbeschreiblich, in den ersten vier Tagen hatten wir kein Licht, nichts zu essen, und in den Frauen-Ilots, L-A-N Lagern war bei Regen der Schlamm 20 cm hoch, so dass ein Gehen ohne Gummistiefel nicht möglich war.“ (Handschriftlicher Bericht von Heinz Lorsch, Stadtarchiv Gernsbach).
An dieser Stelle bricht der Bericht von Heinz Lorsch ab. Die heute Lebenden mögen das bedauern, aber in Anbetracht der damaligen Verhältnisse ist es nur zu verständlich. Die Zustände im Lager spotteten jeder Beschreibung. Die dort untergebrachten Menschen hatte man aus geordneten Verhältnissen herausgerissen. Bis dahin waren sie als unbescholtene Bürger friedlich ihren Beschäftigungen nachgegangen. Nun sahen sie sich plötzlich wie Schwerverbrecher behandelt und wie Vieh in dreckige Verschläge inmitten einer von Dauerregen aufgeweichten Schlammwüste gesteckt, wo sie nur die Wahl hatten, in primitivsten Verhältnissen dahinzuvegetieren oder zu sterben. Nur wenigen blieb da genügend Ausdauer und Kraft, die furchtbaren Erlebnisse festzuhalten. Viele sahen keinen anderen Ausweg als den Freitod. Oskar Wolf aus Baden-Baden berichtet am fünften Tag nach der Ankunft in Gurs:
„Dir. Teutsch u. seine im Nachbarlager untergebrachte Frau haben durch Einnahme von Luminal einen Selbstmordversuch unternommen. Damit haben die Selbstmorde in der kleinen BBadener Gemeinde beinahe 10 % erreicht.“
Die ersten Stunden im Lager beschreibt Oskar Wolf unter dem Datum des 25.10.1940 (Freitag) wie folgt:
„Nach einer ununterbrochenen Eisenbahnfahrt von 48 Stunden ... trafen wir ... gegen 18 Uhr auf dem Bahnhof ... ein. Dort wurden wir in Lastwagen verladen und nach ca. ½-stündiger Fahrt in das isoliert gelegene Lager „Camp de Gurs“ verbracht... Wir wurden Männer & Frauen getrennt in primitiven Holzbaracken untergebracht; die Baracke, in der die lb. (liebe, der Verfasser) Mutti liegt, hat noch nicht einmal Strohsäcke; die armen bedauernswerten Frauen liegen lediglich auf Decken auf dem harten, nackten Holzboden, der zudem noch außerordentlich kalt ist. Wir müssen aber auch das in Kauf nehmen, so niederschmetternd auch der Eindruck ist, kultivierte Menschen in solcher Weise untergebracht zu sehen.“
Ähnlich empfand Eugen Neter die Situation:
„Es war bereits dunkel geworden, als die Autos vor den Ilots (Blocks) hielten. Da standen sie, die Unglücklichen, die Vertriebenen nun bald in den Baracken, die ihre Unterkunft werden sollten auf unbestimmte Zeit. Werden es Monate, Jahre sein? Vom Regen durchnässt, frierend, von der langen beschwerlichen Bahnfahrt erschöpft, schauten sich die Menschen in den leeren Baracken nach einer Möglichkeit um zum Sitzen oder zum Liegen. Keinerlei Sitzgelegenheit bot sich ihnen. Am Boden Strohsäcke oder Stroh oder gar nichts! Auf ihrem Gepäck sitzend – soweit sie solches hatten – verbrachten viele, darunter über 70- und 80jährige Männer und Frauen, diese erste Nacht im Camp, körperlich und seelisch zerrüttet.“
Die Infrastruktur des Lagers war nicht nur völlig unzureichend. Für die erschöpften Neuankömmlinge waren auch keine Nahrungsmittel vorhanden:
„Am Abend unserer Ankunft gab es Tee. Selbst bei diesem einfachsten Abendessen ergaben sich schon Schwierigkeiten dadurch, dass die meisten keine Gefäße hatten, um den Tee zu empfangen. Die wenigen Büchsen, Becher, Flaschen, die mitgebracht worden waren, mussten für die 50 bis 60 Menschen der Baracke ausreichen. Dieser Missstand – das Fehlen fast jeglicher Ess- und Trinkgefäße – dauerte viele Wochen hindurch. Mit zwei Kameraden hatte ich sechs Wochen hindurch zusammen einen Teller und einen Löffel. Es bestand keine Möglichkeit, Essgeräte zu kaufen...“ (Neter, nach ...)
Unter dem 26. Oktober 1940 (Samstag), dem Tag nach der Ankunft, fährt Oskar Wolf fort:
„Die Nacht war schlecht, schlaflos, sehr kalt, ohne Essen am Vortag; wir lebten von den Resten des mitgeführten Proviants. Die Küche ist noch nicht bereit – gekocht wird in mit Holz geheizten freistehenden Kesseln unter einem Wellblechdach u. einer Holzwand. Die Waschgelegenheit ist außerhalb der Baracke, die Latrinenverhältnisse schlecht und unhygienisch.“
Die Latrinen waren nicht nur bei der Ankunft Ekel erregend. Sie waren auch in der folgenden Zeit bei den Lagerinsassen gefürchtet und wurden – neben dem grundlosen, tiefen Morast – für Kranke und Alte oft zu einer lebensgefährlichen Hürde. Neter berichtet:
„Jedes Ilot hat zwei Latrinen, die etwas erhöht als ’Hochstand’ erbaut, nicht unzweckmäßig eingerichtet sind. Am Boden befinden sich zehn Löcher; 1 ½ m hohe Zwischenwände schufen, nach vorn durch eine gleich hohe Tür ergänzt, etwas Kabinenähnliches. Unter den Öffnungen standen eiserne Tonnen, die täglich abgeholt wurden. Dass im Laufe der kalten Monate das Holz der Zwischenräume gestohlen und verbrannt wurde, brachte eine unsympathische Situation. ... Diese Form des Klosetts erforderte ... eine außerordentliche Kraftanstrengung bei den alten Leuten, unter denen, wie bereits betont, viele Hunderte über 80 Jahre alt waren. Aber auch für die Kranken aus den Baracken war die ungewöhnliche Einrichtung eine große Belastung, besonders wenn man berücksichtigt, dass es in den ersten Monaten hauptsächlich Darmstörungen waren, welche die geschwächten Kranken zum häufigen Gang nach dem Hochstand auch nachts nötigten.
Die Beschaffenheit des Weges nach dem Hochstand konnte man, ohne zu übertreiben, als weglos, den Gang dahin als Martyrium bezeichnen. Die Bodenverhältnisse in den Ilots waren unbeschreiblich. Wer die ersten regnerischen Monate nicht miterlebt hat, konnte sich später, nachdem 1941/42 die Ilots saniert, das heißt mit guten Wegen trockengelegt waren, den Sumpf, den Morast nicht vorstellen; ein Schrecken für uns alle, besonders aber für die Frauen. Sobald man die Baracke verließ, trat man bis zum Knöchel in den nachgiebigen Boden, an vielen Stellen sank man tiefer ein. Wie oft kam ich gerade zurecht, um einem armen Menschen aus dem Dreck herauszuhelfen, aus dem er allein sich nicht mehr heraushelfen konnte. Sobald man die Lagerstraße, den einzigen soliden Boden, verließ und das Ilot betrat, begann der Kampf mit dem Boden. Und dieser Kampf war insofern sehr ungleich, als unsere ’kultivierten’ Schuhe diesem wilden Boden nicht gewachsen waren. Besonders die Damenschuhe ... waren nicht das geeignete Schuhwerk gegen diesen Morast; der Schlamm drängt in die Schuhe und ließ die Füße überhaupt nicht mehr trocken werden. Es dauerte noch viele Monate, bis man Gummischuhe und hohe Gummistiefel kaufen konnte, die mit dem schlammigen Erdreich eher fertig wurden. Eine solche kostspielige Anschaffung war aber nicht vielen möglich. Ein jammervolles Bild boten die Essenholerinnen, die sich mit ihren schweren Kübeln durch den Morast durchkämpfen mussten; einen traurigen Anblick boten die alten Leute, wie sie auf einem unförmigen Holzknüppel sich stützend, mühselig auch die kürzesten Wege kaum bewältigten. Es regnete viel in jenem ersten Winter und schuf schweres Leid.“ (Althausen, S. 381 ff.).
Was der Besuch der Latrinen und der Weg durch den Morast bei Dunkelheit und schlechtem Wetter für kranke und geschwächte Lagerinsassen bedeutete, kann man sich unschwer ausmalen. Die Alternative war, seine Notdurft in den Baracken zu verrichten, die allerdings nach einhelligem Tenor aller Berichte weit davon entfernt waren, den Insassen auch nur eine halbwegs menschenwürdige Unterkunft zu bieten. Oskar Wolf aus Baden-Baden schreibt unter dem 17.11.1940 (Sonntag):
„Das Wetter war heute sehr unfreundlich. Kalter, rauer Wind, so dass man sich kaum im Freien aufhalten konnte. Da die Baracke keine Fenster, sondern nur Luken hat, durch welche die Kälte eindringt, herrscht am hellen Tag bei Schließen der Luken solche Dunkelheit, dass man weder lesen noch schreiben kann. Um die Baracke aber mit dem einzigen kleinen Eisenofen (Holzfeuerung) einigermaßen zu überschlagen, müssen Luken und Türen geschlossen bleiben. Das Verweilen in diesem Raum, ohne Tisch und ohne Stuhl ist geradezu erbärmlich. Man weiß nicht, wie man die Zeit totschlagen soll. Dabei immer Hunger und nichts zu essen. Ein schreckliches Dasein!“
Ähnlich äußert sich Eugen Neter:
„Dazu die Dunkelheit in der Baracke! Wohl waren Luken vorhanden, ungefähr sechs auf jeder Seite. Da aber beim Öffnen der Luke die Kälte hereinkam, gab es oft Meinungsverschiedenheiten zwischen denen, die Licht und denen, die Wärme haben wollten. Die Dunkelheit und die Kälte machten das Handarbeiten in den Baracken fast unmöglich und zwangen zu einem Nichtstun, zu einem ’vor sich Hindösen’, das die bedrückte Seele noch mehr beschwerte. Den Durst nach Licht, nach Sonne in den Baracken wird niemand vergessen, der in jenem langen Winter 1940/41 in den dunklen Baracken auf dem Strohsack frierend saß und hungerte. ...
Neben den katastrophalen hygienischen Zuständen und dem Hunger machte auch die Kälte den Insassen schwer zu schaffen:
„Jede Baracke hatte einen Ofen. Im Hinblick auf die Größe der Baracke und die undichten Holzwände genügte dieser eine Ofen in keiner Weise. An Brennmaterial war der Mangel größer als durch den Krieg bedingt. Die nassen und frostigen Monate besonders des ersten Winters waren harte Zeiten für uns und besonders für die alten Leute. Auch die Nächte fror man, da zu wenig Schlafdecken ausgegeben waren; zuerst nur eine Decke und erst viel später eine zweite. Die Decken waren zwar groß und schwer, gaben aber nur wenig Wärme. Nicht viele waren es, die eine eigene Decke mitgebracht hatten. Es konnte deshalb nicht ausbleiben, dass eine große Anzahl, besonders von den alten, in ihren Kleidern schlief ...“ (Althausen, S. 381 ff.)
Neter schildert, wie es im Winter 1940/41 aufgrund der Mangelernährung zu einem Massensterben kommt:
Die anfänglichen Missstände auf gesundheitlichem Gebiet wirkten sich verhängnisvoll aus. Die Monate November/Dezember 1940 und Januar 1941 sahen ein grausames Massensterben. Eine ruhrartige Darmerkrankung hatte um sich gegriffen, nachdem die neuen, sehr schwierigen Lebensbedingungen die Menschen, besonders die vielen Alten, körperlich und seelisch geschwächt und widerstandsunfähig gemacht hatten. Vergeblich fast war die überaus schwere Arbeit der Ärzte und die Mühen der sich aufopfernden Schwestern; zu sehr mangelte es an Arzneien, Diät, Nahrung und Pflegemitteln. In den kahlen Behelfsbaracken mit 30 bis 40 Durchfallskranken eine einzige Bettschüssel. Furchtbar war die Beschmutzung bei dem Mangel an Wäsche, unsagbar die dadurch körperlich und seelisch verursachte Qual. ... In jenen drei Monaten starben weit über 600 Männer und Frauen. ...“ (Althausen, S. 387).
„Wochenlang gab es z. B. nur Rüben, ebenso lange Wochen Kürbisse oder dann nur Kohl oder Topinambour. Diese Einförmigkeit stellte an den Geschmack und die Verdauungsorgane Anforderungen, denen viele nicht entsprechen konnten. Alles wurde dargereicht in Form von Suppen, die zumeist sehr dünn waren. Der Körper wurde von einer (sehr mineralsalzreichen) Flüssigkeit überschwemmt, welche auf die Dauer die Gesundheit eines Organismus untergraben musste, der bereits durch die ungünstigsten Lebensbedingungen in seiner Widerstandskraft geschwächt war. ... Bei vielen Internierten führte aber im weiteren Verlauf die einseitige, unzureichende Ernährung zu einer Abnahme des Gewichtes, die über ein Drittel des früheren betrug und als ernst zu betrachten war, und führte weiterhin zu Krankheitserscheinungen, die unter der Bezeichnung ’Hunger-Ödeme’ (Wassersucht) als Begleit- und Folgeerscheinungen fortgeschrittener Unterernährung bekannt sind.“ (Althausen, S. 389).
Zum Vergleich seien die knappen Passagen bei Oskar Wolf angeführt:
„Das Essen bleibt sich stets gleich. Morgens schwarzer Kaffee und trockenes Brot. Mittags Suppe. Abends Suppe, manches Mal mittags einige Quadratcentimeter Fleisch. ... Das Essen besteht nach wie vor aus schwarzem Kaffee m. Brot, Suppen mittags u. abends. Sonst nichts. Die Brotration ist völlig unzureichend ... Seit Freitag ist Ilot L, wo die lb. Mutti liegt, wegen Ruhrgefahr gesperrt. Es ist daher zweifelhaft, ob ich sie an ihrem Geburtstag besuchen kann. Schade! Jeden Tag, mit Ausnahme von Samstag, finden Beerdigungen statt. Heute wiederum 9. Dieses Massensterben ist fürchterlich.““
Die tägliche Verpflegung in Gurs während der ersten sechs Monaten bestand aus zwei Wassersuppen mit Rüben, gelegentlich Erbsen und selten mit einigen Gramm Fleisch sowie einer Brotration von 350 Gramm. Das entsprach zwischen 980 und 1250 Kalorien. Ein gesunder Mensch mit 60 kg Gewicht benötigt bei völliger Ruhe etwa 1800 Kalorien pro Tag! Wer sich bei dieser Lagerkost nicht auf dem blühenden Schwarzmarkt ein Zubrot leisten konnte, was nur wenigen möglich war, überlebte nur mit Hilfe der Pakete von Angehörigen und Freunden. Doch allzu oft erreichten die Hilfspakte die Adressaten nicht. (Stadt Weinheim, S. 505).
Was Hunger, Kälte und mangelnde Hygiene im Lager Gurs konkret für den einzelnen bedeuten konnten, hat Berty Friesländer-Bloch anschaulich und in bewegenden Worten aus einem bewegenden Blickwinkel festgehalten – dem Blickwinkel einer verzweifelten Mutter:
„Grimmig kalt waren diese Dezembernächte in Gurs! Die Wände glitzerten, so als ob man im Freien kampieren würde. Eingemummt in Mantel, Kopftuch, Schuhen und Handschuhen sank man erschöpft auf das elende, verseuchte Strohlager. Die Strümpfe und Schuhe waren vom Schlamm stets durchnässt, und man hatte keine, ums sie zu wechseln. Wenn der Hunger quält, wenn Frost den ermatteten, gegeißelten Körper schüttelt, wenn Ungeziefer einen fast zum Wahnsinn treibt, wenn Mäuse und Ratten, ebenfalls vom Hunger getrieben, pfeifend im Stroh rascheln und dann über Leiber und Gesichter huschen, ist an ein Schlafen nicht zu denken. Da die Mäuse und Ratten bei uns keine Nahrung vorfanden, zerfraßen sie unsere Kleider, Hüte und unsere Koffer. Eisige Winde drangen durch die Löcher und Ritzen der Baracken. Da und dort wehklagen und wimmern die gequälten, verzweifelten Menschen auf ihrem Lager. Manche bekommen Schreikrämpfe, andere hadern und wünschen den Tod herbei ...“
Wohl stand ein Ofen in unserer Baracke, vorerst aber fehlte es an Heizmaterial. Ich hatte keine trockene Wäsche mehr für mein Kind, das alle zehn Minuten in seinem Kote schwamm. Der einzige Brunnen, der sich in unserem Block befand, war in diesen kalten Wintertragen zugefroren (im Sommer meist versiegt) , desgleichen die Lavabos in den waschraumartigen Baracken. Wie sollten wir ohne Wasser auskommen! ...
Die Baracken sind dunkel, da keine Fenster vorhanden sind, ohne Tageslicht. So kauern wir auf einer Schütte Stroh, welches als Streu auf dem schmutzigen Fußboden liegt. Hunger! Entsetzlicher Hunger beherrscht unser Denken und Fühlen. Elend, Trostlosigkeit, Heimweh zermürben unsere Ichheit. Wassersuppen zweimal täglich und eine kleine Ration Brot! Wie lange werden wir dieses aushalten? ...
Vier Wochen lang weinte und wimmerte mein dreijähriges Kind aus Hunger, und ich hatte nichts ihm zu geben. Wer kann diese Qual einer Mutter ermessen?! Nach und nach wurde mein Bübchen still und stiller, blass und mager, hohes Fieber und Durchfall stellten sich ein. „Ruhr“ – sagten die Ärzte! Medikamente waren damals noch keine vorhanden. Bald sah man nur noch zwei große, weit aufgerissene Augen in dem zarten Kindergesichtchen. ...“
Welche Augenzeugenberichte man auch liest – und es gibt noch viel mehr von ihnen: Die Menschen waren in Gurs unvorstellbaren Verhältnissen ausgesetzt. Mangelernährung, katastrophale Hygiene und ungenügende medizinische Versorgung töteten fast ein Viertel aller Juden, die 1940 aus Baden in dieses Lager deportiert worden waren. Leben in Gurs – das war kaum mehr als ein qualvolles Dahinvegetieren unter dem Existenzminimum. Und doch war Gurs für viele noch nicht das Furchtbarste, sondern erst die Vorhölle – die Vorhölle von Auschwitz und Majdanek. |