|
Ärztliche Kunst und Gottvertrauen. Das „Faulfieber“ im Murgtal 1768-1835 von Cornelia Renger-Zorn Zwischen 1768 und 1835 grassierte im Murgtal mehrfach das geheimnisvolle „Faulfieber“. 1768 konnte es in Gernsbach mit Hilfe eines jungen Arztes eingedämmt werden, der später zu einem der bedeutendsten Mediziner seiner Zeit wurde. Im Winter 1793/1794 raffte die Seuche den halben Gernsbacher Stadtrat dahin. 1834 wütete sie so gnadenlos in Lautenbach, dass die Einwohner die Einrichtung eines ewigen Feiertags gelobten. Das BT beleuchtet die Vorgänge in einer dreiteiligen Serie. Über den Verlauf der Epidemie 1768 gibt eine im Generallandesarchiv aufbewahrte Akte Auskunft. Danach brach im Februar dieses Jahres eine ansteckende Krankheit aus, die sich nach einer frühlingshaften Wetterbesserung abzuschwächen schien, aber „mit dem sich wieder einstellenden Schnee und Regenwetter“ im März verstärkt aufflammte, so dass in kurzer Zeit vergleichsweise viele Menschen erkrankten und starben. Am 19. März wandte sich Karl Wilhelm von Lassolaye, der markgräflich-badische Vogt in Gernsbach, mit einem Hilferuf an den badischen Markgrafen in Rastatt, da sich die Lage offenbar dramatisch verschlimmerte. Die badische Regierung schickte daraufhin am 20. März eine medizinische Untersuchungskommission nach Gernsbach. Sie bestand aus dem Hofmedicus Dr. Lückherr und dem jungen Arzt Johann Peter Frank (1745-1821), der in Straßburg und Heidelberg studiert und promoviert hatte und nun in Diensten des Markgrafen in Baden-Baden praktizierte. Die beiden Ärzte verschafften sich vor Ort am 20. März 1768 (einem Sonntag) ein Bild der Lage und stellten bei den Kranken hauptsächlich folgende Symptome fest: Schüttelfrost, ansteigendes Fieber, großes Durstgefühl, Erbrechen, Magenschmerzen, Kopfschmerzen, Husten, Behinderung der Atemwege, roter, weißlicher oder bläulicher Ausschlag. Manche Patienten litten auch unter Bewusstseinstrübungen, so dass sie, wie es im ärztlichen Bericht hieß, „drei, vier, auch sieben Tage mit beständigem Schreien, dessen die Kranken sich nicht bewusst sind, Zeichen einer wahren Tobsucht von sich geben“. Daneben wurden auch Entzündung der Ohrspeicheldrüse, Halsweh und verlangsamter Puls diagnostiziert. Die aufgeführten Symptome lassen einerseits auf Fleckfieber, aber auch auf Typhus schließen. Johann Peter Frank bezeichnete in seiner Autobiographie die in Gernsbach grassierende Seuche als gefährliches „Faul- oder Nervenfieber“ – eine damals übliche Bezeichnung für Fleckfieber, das man zu dieser Zeit vom Typhus noch nicht unterscheiden konnte. Hervorgerufen werden beide Krankheiten durch verschiedene Bakterien, was noch unbekannt war. Der Typhuserreger verbreitet sich besonders durch verunreinigtes Trinkwasser, das Fleckfieber wird durch Ungeziefer, hauptsächlich Läuse, übertragen. Vor den Stadtbränden 1787 und 1798 herrschten in Gernsbach beengte Wohnverhältnisse mit einem Gewirr von Vorder- und Hinterhäusern mit lichtlosen Höfen und vielen Misthaufen. Die Epidemien traten jeweils im Winter oder Frühjahr auf. Nässe und Kälte schwächten das Immunsystem der Menschen und beförderten die Verbreitung der Erreger. Das Fleckfieber tötete zum Beispiel Tausende von Soldaten während Napoleons Russlandfeldzug 1812, da sie in der klirrenden Kälte ihre Kleidung nicht waschen konnten. Antibiotika wurden erst im 20. Jahrhundert entdeckt, ohne sie ist die Sterblichkeit bei beiden Krankheiten sehr hoch. Die badische Regierung beauftragte, da „sich zu Gernsbach niemand befand, dem solches hätte aufgetragen werden können“, Johann Peter Frank damit, sich um die Kranken vor Ort in Gernsbach zu kümmern. Der badische Vogt Lassolaye erließ eine Meldepflicht für alle Einwohner mit Symptomen der „wahrhaft epidemisch und ansteckend Krankheit“. Manche Häuser waren „mit 5, 7, auch 11 Kranken belegt“. Wirksame Medikamente gab es nicht, nur „Artzneyen, die dem Stand der Krankheit entweder ungemäß, oder ganz zuwider waren“. Die Sterblichkeit war derart angestiegen, „daß auch die umliegenden Orte, als besonders Stauffenberg, angegriffen zu werden anfangen.“ Welche Maßnahmen Dr. Frank ergriff, wird nicht im Einzelnen berichtet. Wegen seiner späteren großen Verdienste um die Verbesserung der öffentlichen Hygiene gilt er heute als Wegbereiter des modernen staatlichen Gesundheitswesens. Man kann vermuten, dass er sicher Isolierung und Verbesserung der Hygiene anordnete. Gernsbach war sozusagen seine Feuertaufe. Essig und Brühe gegen Killer-Bakterien. Das „Faul- oder Nervenfieber“ flammte zwischen 1768 und 1835 mehrfach im Murgtal auf. Die Mittel gegen diese von Bakterien verursachte, ansteckende Seuche waren beschränkt. Als Heilmittel werden in den Quellen unter anderem Essig und Fleischbrühe erwähnt. Das BT beleuchtet die Vorgänge in einer dreiteiligen Serie. Seit dem 22. März 1768 versorgte auf Befehl des badischen Markgrafen der junge Arzt Johann Peter Frank die Seuchenopfer in Gernsbach. In seiner Autobiographie berichtet er, dass er während seines Aufenthalts bis Ende April nur drei seiner Patienten verlor. Die bedürftigen Kranken sollten die „nötigen Medicamenten und Brühe“ auf Kosten der Gemeinde erhalten. Wie die Behandlung ungefähr aussah, kann man aus Franks Autobiographie erahnen. Nach zehn Tagen wurde er selbst krank, kurierte sich aber innerhalb von zwei Tagen durch ein Brechmittel, den Genuss „warmer flüchtiger Getränke“ und eine Schwitzkur. Die Getränke deuten auf den Einsatz von Essig hin, der, mit Wasser vermischt, seit dem Altertum geschätzt wurde und das Trinkwasser durch seine antibakterielle Wirkung oft erst genießbar machte. Außerdem wurde den Patienten sorgfältige Pflege und angemessene Ernährung zuteil. Nach Abklingen der Seuche berichtete der evangelische Pfarrer am 4. April, insgesamt habe es über 50 Kranke gegeben, und von seinen Pfarrkindern seien zwölf an der Epidemie gestorben, darunter auch der Schiffer Jacob Kast III. (1699-1768). Elf Personen seien noch krank, die übrigen befänden sich, so der Pfarrer, „außer Gefahr“. Die Todesrate war erheblich, wenn man bedenkt, dass die erwähnten zwölf Opfer innerhalb von nur zwei bis drei Wochen starben! Unterstützt wurde Frank vor Ort durch den Barbier Carl Pfrang, den Chyrurgus (Wundarzt, also Arzt mit handwerklicher Ausbildung) Lemmerich und den Apotheker Büchler. Eine Apotheke in Gernsbach wird bereits 1695 erwähnt. Im späten 18. Jahrhundert befand sie sich an der Ecke Hauptstraße/Judengasse, wo sie 1798 abbrannte. Auch in dem Nachfolgegebäude war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wieder eine Apotheke. Johann Peter Frank machte in den folgenden Jahren eine erstaunliche Karriere: Er war Leibarzt des Fürstbischofs von Speyer und des russischen Zaren, lehrte an mehreren Universitäten, reorganisierte das Spitalwesen und die Ausbildung von Ärzten in der Lombardei, in Wien und in Vilnius. Daneben gab er seine Fachkenntnisse in zahlreichen Schriften weiter. Die Ursachen vieler Krankheiten erkannte er in den armseligen Lebensumständen großer Bevölkerungsteile, die er zu verbessern suchte. Der Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes verleiht jedes Jahr für besondere Verdienste um das Gesundheitswesen der Bundesrepublik Deutschland die Johann-Peter-Frank-Medaille. In Gernsbach hatte die überstandene Epidemie noch ein unangenehmes Nachspiel. Die Stadt wurde vom badischen Markgrafen und vom Bischof von Speyer gemeinsam regiert. Der Speyerer Vogt Martin Keil war aber bei den Notfallmaßnahmen auf dem Höhepunkt der Krise nicht um seine Zustimmung gefragt worden, da er sich zu dieser Zeit nicht in Gernsbach befand. Keil spielte daraufhin die Krankheit herunter und warf dem badischen Vogt Carl Wilhelm von Lassolaye vor, er habe seine Abwesenheit ausgenutzt, um die Rechtsposition von Speyer zu untergraben, wogegen er Protest einlegen müsse. Mühsam einigte man sich auf die Verteilung der Kosten: Die vermögenden Kranken mussten für ihre Behandlung selbst zahlen, die armen erhielten Unterstützung aus dem Spitalfonds. Ohne Anerkennung einer Rechtspflicht stimmte der Bischof einer Belohnung des Dr. Frank in Höhe von vier Louisdor zu (nach heutigem Goldpreis etwa 1300 Euro). Die damals recht hohe Summe wirft ein Licht auf den Ernst der Lage. Der zweite Ausbruch des sogenannten „Faulfiebers“ fand im Winter 1793/94 statt. Eine Akte aus dem Stadtarchiv Gernsbach erwähnt, dass in dieser Zeit der „halbe Gemeinderat“, also sechs der zwölf Ratsherren, dahingerafft wurde. Leider erfahren wir aus dieser Akte keine näheren Einzelheiten über die Krankheit. Genauer sind wir über den Ausbruch der Seuche in Lautenbach 1834 informiert. „Geißel des Sterbens“ in Lautenbach. Das geheimnisvolle „Nervenfieber“ grassierte 1768 und 1794 in Gernsbach, wütete aber ganz besonders verheerend 1834 und 1835 in Lautenbach. Aus Verzweiflung gelobten die Lautenbacher, auf ewige Zeiten einen Feiertag zu begehen in der Hoffnung, dass Gott das Sterben beenden würde. Das BT beleuchtet die Vorgänge in einer dreiteiligen Serie. Anfang 1834 brach eine Epidemie aus, die im Lautenbacher Sterbebuch „Nervenfieber“ genannt wird. Die Bezeichnung deutet auf Fleckfieber oder Typhus hin, die beide mit Bewusstseinstrübungen verbunden sein können. Beide Seuchen werden durch Bakterien verursacht und sind ohne Antibiotika (die erst viel später entdeckt wurden) mit hohen Sterblichkeitsraten verbunden. Auch Lungenödeme treten bei beiden Krankheiten auf. Laut Totenbuch starb als zweites Opfer der Seuche die Lautenbacher Witwe Franziska Schiel am 10. Februar 1834 an einem „Steckfluß“, erstickte also vermutlich infolge Lungenversagens. Während in den Jahren 1832 und 1833 in Lautenbach jeweils zwölf Sterbefälle verzeichnet sind, starben 1834 insgesamt 40 Personen: darunter elf Männer (sieben zwischen 16 und 44 Jahren, vier zwischen 55 und 73 Jahren) und 13 Frauen (neun zwischen 17 und 38 Jahren, vier zwischen 51 und 70 Jahren). Besonders hoch war die Todesrate unter den Kindern: neun Jungen zwischen drei Tagen und drei Jahren sowie sieben Mädchen zwischen einem Monat und 13 Jahren. Da öfter der Vermerk „mit ärztlicher Erlaubnis begraben“ erscheint, ist davon auszugehen, dass die Verstorbenen zum größten Teil der Seuche zum Opfer fielen, die in diesem Jahr zehn Prozent der 381 Einwohner zählenden Bevölkerung dahinraffte. Begraben wurden die Opfer von Kaplan Schell in Gernsbach. Vermutlich ist Martin Schell gemeint, der Neffe des Gernsbacher katholischen Pfarrers Peter Joseph Schell, der bei der Bevölkerung sehr beliebt war und seinem Onkel nach dessen Tod 1840 im Amt folgte. Für die ärztliche Versorgung war Dr. Wittum zuständig, 1834 Physikus (also Arzt) zu Gernsbach. 1839 wird er an der Seite von renommierten Wissenschaftlern in einer medizinischen Zeitschrift erwähnt. Er gehörte einem Verein praktischer Mediziner an, die sich auch für pharmakologische Themen interessierten. Bei Nervenfieber wurde zum Beispiel der Einsatz von Baldrian, Drachenwurz oder Chlorwasser erörtert. Allerdings konnten solche Mittel die damalige Seuche kaum zum Erliegen bringen. Die Todesraten stiegen weiter. Im November und Dezember starben jeweils sieben Menschen. In ihrer Verzweiflung gelobten die Lautenbacher am 28. Dezember 1834, „daß von jetzt an und zu allen Zeiten in hiesigem Ort ein Feiertag soll aufgerichtet werden mit einem Opfergang, damit aus diesem die Kosten des Priesters bezahlt werden können.“ Das Gelöbnis wurde in einer Urkunde festgehalten und trägt die Unterschriften der 55 Männer, die damals die „volle Versammlung der Gemeinde“ bildeten. Die Wahl des künftigen besonderen Feiertages fiel auf den 2. Juli, das Fest „Mariä Heimsuchung“ (Besuch der Gottesmutter Maria bei ihrer Verwandten Elisabeth). Um den Feiertag noch im Jahr 1834 begehen zu können, legte man das Datum in diesem Jahr ausnahmsweise auf Sonntag, den 30. Dezember. Jeder Ortsangehörige verpflichtete sich, in Zukunft den 2. Juli so zu feiern wie einen Sonntag und sich aller „knechtlichen“ (also bäuerlichen und handwerklichen) Arbeit zu enthalten. Die Strafe bei Zuwiderhandlung betrug eineinhalb Gulden (also 90 Kreuzer). Zum Vergleich: Ein Stadtsoldat in Gernsbach verdiente 1830 zwölf Kreuzer am Tag. Der Feiertag sollte mit einem Hochamt (feierliche Form der heiligen Messe) begangen werden, bei der auch ein „Opfergang“ vorgesehen war. In der Regel zogen die Gläubigen bei einem solchen Opfergang in der Kirche zum Altar, um dort ihr Geldopfer niederzulegen. Das Gelübde zeigte Wirkung, allerdings nicht sofort. Im Januar 1835 stieg die Sterblichkeitsrate mit neun Menschen auf ihren höchsten Stand, darunter vier Kinder zwischen 18 Stunden und 11 Jahren. Im Februar gab es noch drei Tote, im April zwei. Die übrigen fünf im Jahr 1835 Verstorbenen verteilten sich auf die restlichen Monate. Bis heute haben die Lautenbacher ihr Versprechen gehalten. Seit 1835 ist der 2. Juli in Lautenbach ein Feiertag. Nur im Ablauf mag sich einiges geändert haben – nicht zuletzt durch den Bau der Illertkapelle 1867 und der neuen Kirche 1961.
|