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175 Jahre Revolution in Baden und Gernsbach (Text und Fotos: Cornelia Renger-Zorn)

 In den Jahren 2023 und 2024 jährt sich die Revolution in Baden, in der Gernsbach eine nicht unwesentliche Rolle spielte, zum 175. Mal. Dieses Jubiläum ist Anlass, über die Ereignisse und Hintergründe zu berichten.

Zunächst sollen Lage und Stimmung in Gernsbach im Frühjahr 1848 beleuchtet werden.

Mitte März 1848 fand eine Versammlung in der Gernsbacher Gastwirtschaft „Badischer Hof“ (Amtsstraße 23, 1960 abgerissen) statt, bei der die Gemüter sich derart erhitzten, dass im weiteren Verlauf ein Bild König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen verbrannt wurde. Auf dieser Versammlung wählte man Delegierte (darunter den Schiffer und Gemeinderat Friedrich August Schickardt), die an der für den 2. April 1848 anberaumten Volksversammmlung in Achern teilnehmen sollten, wo Josef Fickler, der landesweit bekannte Herausgeber und Redakteur der Konstanzer „Seeblätter“, die Einführung der Republik in Baden und ganz Deutschland propagierte. Auch der Wirt des Badischen Hofes, Gustav Wallraff, war als überzeugter Republikaner bekannt. In Gernsbach, über Jahrhunderte hindurch von Grafen, Markgrafen, Bischöfen und Großherzögen regiert, erhoben sich also Stimmen, die offen über einen möglichen radikalen Umsturz der Machtverhältnisse sprachen. Was war geschehen?

Deutschland war in 35 von Fürsten beherrschten Einzelstaaten aufgesplittert, die im Deutschen Bund zusammengeschlossen waren. Dieser Bund, 1815 nach dem Sieg über Napoleon gebildet, enthielt in seinen Statuten einen Artikel, nach dem in den Einzelstaaten Verfassungen eingerichtet werden sollten. Die Völker der einzelnen Staaten hofften auf politische Mitbestimmung und darüber hinaus auf eine Umwandlung des Staatenbundes in einen deutschen Nationalstaat. Diese Hoffnung wurde aber im Wesentlichen durch die reaktionären Vormächte des Deutschen Bundes, Preußen und Österreich, schwer enttäuscht. Das Großherzogtum Baden galt im Reigen der Monarchien noch als fortschrittlich, da es bereits 1818 eine Verfassung erhalten hatte, die ein gewisses Maß an politischer Mitbestimmung gewährte. Allerdings wurde die in Teilen bereits erreichte Entwicklung hin zu mehr Liberalismus auf Druck von Preußen und Österreich durch Repressionsmaßnahmen wie Pressezensur und Verbot politischer Vereine wieder massiv eingeschränkt. Überall steigerten sich bei den Menschen Enttäuschung und Wut gegen die reaktionären Machthaber und ihre Unterdrückungsmethoden. Figuren, gegen die sich der Hass besonders richtete, waren der preußische König Friedrich Wilhelm IV. und der österreichische Staatskanzler Fürst Metternich.

Die Lage eskalierte, als die Franzosen im Februar 1848 ihren König stürzten und die (zweite) Republik ausriefen. Nun gab es auch in Deutschland kein Halten mehr. An vielen Orten erhob sich das Volk und forderte stürmisch, was seine Fürsten ihm so lange nicht hatten gewähren wollten: bürgerliche Grundrechte, politische Mitbestimmung und die deutsche Einheit. Aus Angst vor revolutionären Flächenbränden gingen die Fürsten überall auf die „Märzforderungen“ ein, gewährten Grundrechte und beriefen liberale „Märzregierungen“. Auch in Baden wurden konservative Minister ausgetauscht und die Pressezensur aufgehoben. Aufbruchsstimmung machte sich breit, die Bevölkerung artikulierte ihre politischen Ambitionen in zahlreichen Volksversammlungen. Die Gernsbacher erfuhren von den neuesten Entwicklungen durch Mitbürger, die an solchen Versammlungen teilgenommen hatten wie zum Beispiel Friedrich August Schickardt. Den Honoratioren und besser gestellten Bürgern der Stadt, die der örtlichen Lesegesellschaft angehörten, standen darüber hinaus mehrere Zeitungen zur Verfügung, die im Versammlungslokal der Lesegesellschaft in einem Nebenraum des „Badischen Hofes“ auslagen.

Die Gernsbacher Lesegesellschaft war bereits im Dezember 1847 gegründet worden. Ihr gehörten Bürger an wie Gemeinderäte, Beamte, Pfarrer, Arzt, Apotheker, Murgschiffer, kurz diejenigen, die sich die fünf Gulden Jahresbeitrag (etwa zehn Prozent des Jahreseinkommens eines Tagelöhners) leisten konnten. Während zunächst Geselligkeit und Bildung im Vordergrund standen, gewann die politische Thematik bald die Oberhand. Nicht allen Gernsbacher Bildungsbürgern war die Entwicklung geheuer. Was Friedrich August Schickardt von der Volksversammlung am 2. April in Achern zu berichten hatte, klang auf jeden Fall nach radikalem Umsturz.

Dort war ein Programm beschlossen worden, das unter anderem „Wohlstand, Bildung und Freiheit für alle ohne Unterschied der Geburt, des Standes und des Glaubens“, „Aufhebung der erblichen Monarchie“ und eine föderative deutsche Bundesverfassung „nach dem Muster der nordamerikanischen Freistaaten“ verlangte. Dieses Programm orientierte sich an den Vorstellungen der radikalen, republikanisch gesinnten Demokraten um die Mannheimer Juristen Friedrich Hecker und Gustav Struve, deren Forderungen auch bereits soziale Komponenten enthielt wie zum Beispiel die progressive Einkommenssteuer.

Anders als die liberal gesinnten Abgeordneten der zweiten Kammer des badischen Landtags lehnten die antimonarchistischen Demokraten eine politische Neuordnung in Zusammenarbeit mit den Fürsten ab. Ende März plädierten sie im Frankfurter Vorparlament, das die Wahlen zu einer gesamtdeutschen, verfassunggebenden Nationalversammlung organisieren sollte, für die sofortige Einführung der Republik, wurden aber auch hier von der liberalen Mehrheit überstimmt, die es der zu wählenden Nationalversammlung überlassen wollte, die künftige Staatsform Deutschlands zu bestimmen. In Baden setzten die Demokraten mangels parlamentarischer Mehrheit auf außerparlamentarische Opposition. Sie mobilisierten die Massen landesweit durch zahlreiche Volksversammlungen, um ihre Stärke zu zeigen und Anhänger zu gewinnen. Zur Organisation des Volkes und zur Durchsetzung radikaler Ziele wurden Ausschüsse auf regionaler Ebene gebildet.

Auch in Gernsbach hatte sich bereits radikaleres Gedankengut verbreitet. Friedrich Schickardt ließ sich in Achern in den Ausschuss des Mittelrheinkreises wählen, bekannte sich also zur Republik. Gustav Wallraff, der Wirt des Badischen Hofes, war sogar ein überregional bekannter Republikaner. Man kann sich vorstellen, dass die Stimmen der radikal Gesinnten besonders in seinem Lokal laut wurden. Im März 1848 war die Stimmung in Gernsbach aber noch überwiegend regierungstreu, so dass Oberamtmann Georg Albert Oehl vom Bezirksamt Gernsbach nach Karlsruhe berichten konnte: „Die Gesinnung der Bewohner des Murgthals ist für den durchlauchtigsten Landesfürsten bei Arm und Reich ohne Unterschied der politischen Farbe sehr gut und gediegen zu nennen.“ Andererseits, so der Oberamtmann weiter, habe sich in Gernsbach ein Zwiespalt in der Bürgerschaft ergeben. Nach seiner Schilderung wollte ein Teil der Bürger ein Dankschreiben an Großherzog Leopold richten dafür, dass der die Pressefreiheit bewilligt und die Einrichtung von Schwurgerichten (statt der bisherigen geheimen Kabinettjustiz) und die Einführung der Volksbewaffnung (Bürgersoldaten statt nur vom Regenten abhängige Truppen) in Aussicht gestellt hatte. Andere, darunter Bürgermeister und Gemeinderäte, wollten darüber hinaus auch noch die Abschaffung der Bestätigung der Bürgermeisterwahlen durch die Staatsbehörde erreichen.

Offenbar brodelte es in der Stadt, die „Märzerrungenschaften“ elektrisierten die Menschen. Wie Oehl berichtet, wurde der Polizei öfter der Ausdruck „Preßfreiheit!“ entgegengerufen, wenn sie zum Ankündigen der Polizeistunde in den Wirtshäusern erschien. „Preßfreiheit“ galt offenbar als Schlagwort schlechthin für den Widerstand gegen verhasste staatliche Bevormundung, wie zum Beispiel die frühe Polizeistunde um 22 Uhr. Dennoch war der Oberamtmann überzeugt, dass er dem Großherzog im Fall von Unruhen 150 bis 200 zuverlässige Bürger nach Karlsruhe zur Unterstützung der Polizei schicken könnte. Nach seinem Bericht spielten die erklärten Regimegegner in der etwa 2200 Einwohner zählenden Stadt Gernsbach offenbar noch keine Rolle.

Hecker-Aufstand und Fackelzug auf Schloss Eberstein.

Die Gernsbacher, die am 23. April 1848, einem Sonntag, im Clubzimmer der Lesegesellschaft im „Badischen Hof“ (vormals Amtsstraße 23) die „Deutsche Zeitung“ aufschlugen, lasen Schockierendes: Regierungstruppen hatten einen Aufstand der Republikaner niedergeschlagen. Die Hoffnung des Anführers Friedrich Hecker, große Volksmassen mobilisieren zu können, war gescheitert. „Wo man auf Tausende rechnete, sind Dutzende erschienen“, berichtete das Blatt.

Der Mannheimer Rechtsanwalt Friedrich Hecker (1811-1881), entschiedener Demokrat und Republikaner, hatte am 13. April einen Aufstand zur Errichtung der Republik vom Zaun gebrochen. Er befürchtete, die gemäßigt-liberale Mehrheit im Frankfurter Vorparlament (das die Wahl zu einem verfassunggebenden gesamtdeutschen Nationalparlament organisieren sollte) werde die Gunst der revolutionären Stunde verspielen und den Fürsten erlauben, ihre Macht wieder zu konsolidieren. Doch Heckers schlecht vorbereiteter Aufstand blieb ohne die erhoffte Resonanz und wurde durch reguläre badische, hessische und württembergische Truppen zwischen dem 20. und 27. April bei Kandern, Freiburg und Niederdossenbach (Kreis Lörrach) blutig niedergeschlagen. Hecker floh in die Schweiz, später in die USA. Im September versuchte sein Gesinnungsgenosse Gustav Struve noch einmal, mit nur etwa 500 Unterstützern von Lörrach aus die Republik gewaltsam durchzusetzen. Auch dieser Putsch wurde niedergeschlagen, Struve verhaftet.

Ob Gernsbacher an diesen Aufständen beteiligt waren, ist nirgends überliefert. Was die meisten darüber dachten, dürfte der Meinung des durchaus liberalen Zeitungskommentators entsprochen haben: „Das Gefühl der Befriedigung, das dieser Sieg der Ordnung und Gesetzlichkeit in jedem Patrioten erregen muss, wird durch den Gedanken getrübt, dass Deutsche gegen Deutsche fochten“. Auch ein erklärter Republikaner wie Robert Blum, der Führer der sächsischen Demokraten und Abgeordneter des Frankfurter Vorparlaments, der einige Monate später auch in Gernsbach eine Rolle spielen sollte, wetterte gegen die „wahnsinnige Erhebung“, die für die Diskreditierung der Republikaner gesorgt habe. Der Sulzbacher Bürgermeister Peter Kraft dagegen meinte: „Vivat, der Hecker soll leben; jetzt zahlen wir nichts mehr!“ Das war aber weniger ein qualifiziertes Urteil über den Aufstand, sondern drückte eher die allgemeine Hochschätzung für Hecker aus, der trotz seiner missglückten Erhebung ein Mythos und ein Idol des Freiheitskampfes gegen staatliche Willkür blieb – vielleicht auch, weil er am endgültigen Scheitern der Revolution 1849 nicht mehr beteiligt war.

Gewalt als Mittel der Politik war auch in Gernsbach verpönt. Die meisten Bürger wollten die im März 1848 errungenen Freiheitsrechte nicht gefährden. Der Großherzog galt nach wie vor als legitimer Landesherr, für einen weiteren Umbau der Verfassung in Richtung Liberalismus blickte man hoffnungsvoll nach Frankfurt, wo zuerst das Vorparlament tagte und im Mai 1848 die Nationalversammlung in der Paulskirche zusammentrat, um eine Verfassung für einen neu zu schaffenden deutschen Gesamtstaat auszuarbeiten. Auch viele von denen, die eine Republik befürworteten, überließen die Entscheidung über die Staatsform lieber diesem vom Volk gewählten Parlament. Als Dank für die Niederschlagung des Heckeraufstands wurde in Gernsbach zu Ehren des Großherzogs sogar durch „sämmtliche hiesige Bürger“ ein Fackelzug zum Schloss Eberstein abgehalten, wie der Gernsbacher Wilhelm Seyfarth berichtet.

Gemäßigte Liberale und Demokraten: Wilhelm Seyfarth, Franz Kürzel, Johann Carl Drissler

Seyfarth war ein typisches Beispiel für einen der liberalen Entwicklung aufgeschlossenen, dabei aber regimetreuen Bürger. Geboren 1810, lernte er das Handwerk des Siebmachers in Calw. Nach der Lehrzeit bereiste er, wie er schreibt, „die größten Städte Deutschlands“, und kehrte 1834 nach Gernsbach zurück, wo er sein Geschäft in der Waldbachstraße gründete. Die von ihm gefertigten „Metalltücher“ (Gewebe aus Messingdraht) wurden erfolgreich in den Papierfabriken eingesetzt. 1846 erhielt er auf einer Gewerbeausstellung in Karlsruhe aus der Hand des Großherzogs sogar „die große silberne Preismedaille“. Seit etwa 1843 saß Seyfarth im Gernsbacher Gemeinderat, im Frühjahr 1848 kaufte er, sozusagen als berufliches zweites Standbein, noch das Gasthaus „Zum Bock“ am Stadtbuckel.  Wie er später schreibt, bereitete ihm die mit Bewegung verbundene Tätigkeit als Gastwirt aufgrund einer früheren Verletzung (auf seiner Wanderschaft nach der Lehre war er vom Blitz getroffen worden) weniger Schmerzen als langes Sitzen. Der „Bock“ sollte 1849 neben dem „Badischen Hof“ zum Zentrum der radikalen Demokraten werden, aber noch gab es keinen Grund, auf Umsturz zu sinnen. Noch hoffte man, ein geeintes Deutschland mit einer freiheitlichen Verfassung auf friedlichem Weg und in Zusammenarbeit mit dem Großherzog zu erreichen. Seyfarth stand der Staatsform einer Republik nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber, wollte sie aber, wie die meisten seiner Mitbürger, keineswegs durch Gewalt erzwingen. Als Gemeinderat wurde er dann aber 1849 doch in die revolutionären Ereignisse mit hineingezogen und 1852 wegen Hochverrats verurteilt, was vermutlich zu seinem frühen Tod 1856 beitrug. Auf dem evangelischen Friedhof erinnert ein Gedenkstein an ihn und seinen gleichnamigen Enkel.

Ähnlich wie Seyfarth dachten auch die Inhaber der örtlichen Apotheke (Hauptstraße 31, heute Gaststätte „Altstadt Da Orazio“), Heinrich und Engelhard Sonntag (Vater und Sohn), oder der praktische Arzt Franz Kürzel (geboren 1814). Letzterer kam aus einer Freiburger katholischen Familie, sein Bruder war Pfarrer in Ottersweier. 1841 ist Kürzel als Assistent des renommierten Mediziners Carl Heinrich Baumgärtner an der Universitätsklinik Freiburg nachgewiesen. Ob Kürzel in Freiburg promoviert hat, lässt sich nicht nachweisen. In den Akten der Gernsbacher Volkszählung vom Juli 1848 ist er jedenfalls als „Doctor Kürzel“ verzeichnet. 1843 praktizierte er in Kappelrodeck, danach in Gernsbach. Dort war er als praktischer Arzt, Wundarzt und Geburtshelfer im Spital in der Waldbachstraße (Haus Nr. 45) zusammen mit dem Chirurgen Carl Gasteiger tätig. Gasteiger wohnte mit seiner Familie im Spital, der ledige Kürzel im nahe gelegenen Haus des Bierbrauers Heinrich Wallraff. Der Arzt hatte seine Mitbürger Ende 1847 zur Gründung der Gernsbacher Lesegesellschaft ermuntert und war zu deren Vorstand gewählt worden. Durch seine ausgleichende Art gelang es ihm immer wieder, Streitigkeiten zwischen den politischen Lagern zu schlichten.

Zu den gemäßigten Demokraten zählte auch der Gernsbacher Bürgermeister Johann Carl Drissler (geboren 1795). Laut Volkszählung von 1848 wohnte er in der „Oberstadt 262“. Diese Adresse könnte mit der heutigen Storrentorstraße 6 übereinstimmen (zu diesem Schluss kam 1999 auch der damalige Stadtarchivar Winfried Wolf). Als Hausbewohner werden Drissler, seine Frau, Sohn Carl, drei minderjährige Töchter und eine Dienstmagd aufgeführt. Später ebenfalls wegen Hochverrats verurteilt, schreibt Drissler 1856, er sei elf Jahre lang (1838 bis 1849) Bürgermeister gewesen und habe das Amt „zur Zufriedenheit der hohen Staatsbehörde“ und der Mitbürger verwaltet. Im Juni 1849 wurde er mit beinahe 100 Prozent der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 71 Prozent als Bürgermeister wiedergewählt. „Dein Alter ging mit Glanz durch“, meinte Wachtmeister Wilhelm Rothengatter zu Drisslers Sohn. Der Bürgermeisterposten war ein niedrig honoriertes Ehrenamt. Drissler, im Hauptberuf Holzhändler, versteuerte nach einer Aufstellung von 1839 jährlich ein Kapital von 16.000 Gulden. Mehr versteuerten nur wenige Mitbürger wie der jüdische Handelsmann Löw Dreyfuß (21.640 Gulden) oder die Murgschiffer Casimir Kast (27.000 Gulden) und Casimir Katz (34.100 Gulden).

 

Karikatur Reiterei 48

Karikatur zur Märzrevolution 1848: Endlich darf einmal der deutsche Michel reiten, anstatt immer nur von seinen gekrönten Häuptern geritten zu werden! (Aus Hans Blum, Die Deutsche Revolution, Leipzig 1897)

Badischer Hof

Der ehemalige “Badische Hof” in Gernsbach (Amtsstraße 23)

Hecker

Friedrich Hecker, Mythos der Revolution (aus Hans Blum)

Goldener Bock

Gasthaus “Zum Bock” (heute “Goldener Bock” genannt), Gernsbach, Hauptstraße 20

Grabstein Seyfarth

Grabstein für den Bockwirth Wilhelm Seyfarth und seinen Enkel auf dem evangelischen Friedhof Gernsbach.

Amtshaus Gernsbach

 Ein Beispiel für die real existierende Pressefreiheit in Baden vom April/Mai 1848.

 „Murgthalbote oder Gernsbacher Intelligenz- und Wochenblatt“, so nannte sich die neue Zeitung, die im April 1848 erstmals erschien. Die Gewährung der Pressefreiheit nach der Märzrevolution hatte es möglich gemacht. Herausgeber und Redakteur war der 38jährige Franz Karl Müller, wohnhaft in Gernsbach. Gleich in der zweiten Ausgabe vom 13. April bekannte er sich zum „liberal-constitutionellen System“. Wenig später war das Blatt aber schon verboten – trotz Pressefreiheit.

Der „Murgthalbote“ erschien sonntags und donnerstags und enthielt politische Nachrichten, aber auch Informationen zu Landwirtschaft, Handel und Gewerbe wie zum Beispiel die aktuellen Getreidepreise. Gedruckt wurde das Blatt bei Buchdrucker Weiß in Baden-Baden. Bereits nach drei Wochen zählte es 156 Abonnenten. Trotz Müllers Bekenntnis zu gemäßigten Reformen enthielt seine Auflistung „Deutschlands constitutionelle Wünsche“ in der Ausgabe vom 13. April nicht nur liberale Forderungen wie die nach langfristiger Pressefreiheit und unabhängiger Justiz, sondern auch Punkte, die eher den Zielen der radikalen Republikaner um Friedrich Hecker und Gustav Struve entsprachen, zum Beispiel die Trennung von Kirche und Staat, eine progressive Einkommens- und Vermögenssteuer, die Auflösung des kostspieligen stehenden Heeres oder die Abschaffung der Apanagen (Unterhaltsleistungen aus Steuergeldern für Mitglieder des Fürstenhauses).

Albert Öhl, monarchistisch-reaktionär gesinnter Leiter des Bezirksamts Gernsbach, sah im „Murgthalboten“ nur eine überflüssige Plattform für „Partheizwecke“ und drohte mit der Einstellung des Blattes, da Herausgeber Müller wegen „nothorischer Armuth“, so das Amt, die laut Presseverordnung vorgeschriebene Kaution von 1000 Gulden nicht gestellt hatte. Am 30. April bat Müller um Erlass der Kaution. Er gab an, die Zeitung gegründet zu haben, um seine Familie ernähren zu können. Es kam zu einem längeren Schriftwechsel zwischen Müller, dem Bezirksamt und der Regierung in Karlsruhe.

Währenddessen fanden in den Einzelstaaten die Wahlen für die Abgeordneten der verfassunggebenden Nationalversammlung in Frankfurt statt. Im Wahlkreis Baden-Baden, Rastatt, Gernsbach war der gemäßigt-liberale Landtagsabgeordnete Friedrich Bassermann als Kandidat vorgeschlagen worden. Der „Murgthalbote“ vom 11. Mai plädierte nun vehement dafür, stattdessen den für seine Aufgeschlossenheit gegenüber republikanischen Ideen bekannten Adam von Itzstein aufzustellen. Der populäre Itzstein war gleich in mehreren Wahlkreisen von den Radikalen aufgestellt worden. Da er die Wahl nur in einem Wahlkreis annehmen durfte, hoffte man in den anderen Wahlkreisen auf die Nachwahl von ebenfalls republikanisch gesinnten Kandidaten.

Zeitungsmacher Müller hatte sich mit diesem Artikel klar zur Republik bekannt. Aufgrund des Ende April 1848 niedergeschlagenen Hecker-Aufstandes in Südbaden war das Vorgehen der Regierung gegen entschiedene Republikaner aber verschärft worden. Öhl konnte wegen des Artikels selbst nicht gegen Müller vorgehen, da der die Urheberschaft abstritt. Die Zeitung wurde nun aufgrund der immer noch fehlenden Kaution unter Androhung eines Bußgelds verboten. Laut Auskunft des Gemeinderates hatte Müller eine Frau und vier Kinder zu versorgen. 13 Jahre lang hatte er eine Gärtnerei und Samenhandlung in Mannheim betrieben, 1845 war er nach Gernsbach gezogen und hatte dort eine Zeitlang die „Aufsicht über die Gemeindebaumschule“. Die Familie wohnte in der südlichen Igelbachstraße 82. Am 18. Mai war Müller, wie seine Frau mitteilte, nach Hochstein (nahe Kaiserslautern) gegangen, vermutlich auf der Suche nach Arbeit. Vorher hatte er noch eine Erklärung für seine „verehrlichen Abonnenten“ drucken lassen. Er sei, wie er schreibt, an Schikanen, Druck und Willkür gewöhnt und lasse sich nicht entmutigen. Franz Karl Müllers weiteres Schicksal ist unbekannt. Den Gernsbachern blieb eine ernüchternde Erfahrung in Sachen real existierender Pressefreiheit im Großherzogtum Baden.

 

Bürger in Uniform oder Hilfstruppe des Großherzogs? Die Gernsbacher Bürgerwehr. 

 Am 18. Mai 1848 nahm die Nationalversammlung in Frankfurt ihre Arbeit auf, um Deutschland eine Verfassung zu geben. Gleichzeitig trieb auf Landesebene die badische Regierung umfangreiche Reformen voran. Dem Verlangen der Bevölkerung nach Pressefreiheit war bereits entsprochen worden. Noch im März wurde auch die Forderung nach Volksbewaffnung im sogenannten Bürgerwehrgesetz umgesetzt.

Nach diesem Gesetz sollte in jeder Gemeinde des Großherzogtums eine Bürgerwehr aufgestellt werden. Als Wehrpflichtige kamen Männer vom 21. bis 55. Lebensjahr in Frage. In Gernsbach wurden die Listen der Wehrpflichtigen (im Landesarchiv Karlsruhe erhalten) auf Anweisung von Bürgermeister Drissler und dem Gemeinderat aus den Standesbüchern erstellt. Das evangelische Stadtpfarramt meldete 387 Männer, das katholische Stadtpfarramt 137. Dazu kamen noch sieben Israeliten. Im Ganzen standen also 532 Männer im Alter zwischen 21 und 55 Jahren zur Verfügung, von denen aber nicht alle aufgestellt wurden. Wehrpflichtige, die vom Dienst befreit waren, zahlten laut Gesetz einen nach ihren Vermögensverhältnissen festzustellenden jährlichen Beitrag von 2-50 Gulden in eine Wehrkasse.

Die Kleidung der Bürgerwehr blieb jeder Gemeinde überlassen. Die Bewaffnung bestand in Säbel, Gewehr und Patronentasche. Der Säbel und die mit der Ebersteiner Rose verzierte Patronentasche des 36jährigen Bürgerwehr-Kommandanten Wilhelm Grötz sind im Stadtarchiv Gernsbach erhalten. Die Gewehre waren auf Beschluss des Gemeinderates zunächst aus der Gemeindekasse angeschafft worden, obwohl laut Bürgerwehrgesetz jeder Wehrmann die Kosten für seine Bewaffnung selbst zu tragen hatte. Als Bürgermeister Drissler die Wehrmänner zur Zahlung aufforderte, warfen 100 Wehrmänner aus Protest ihre Gewehre dem Bürgermeister vor die Füße, wie ein Zeitzeuge berichtet. Erst nachdem ihnen erklärt worden war, dass nach dem Gesetz die „unbemittelten“ Wehrmänner Anspruch auf Ersatz aus der Wehrkasse hatten, nahmen sie die Waffen wieder auf. Zu den „Unbemittelten“ zählten in Gernsbach besonders die Tagelöhner, von denen es nach den Volkszählungslisten von 1848 (Stadtarchiv Gernsbach) etwa 60 gab.

Die Bürgerwehr vereinte Männer verschiedener politischer Couleur. Sogar der erzkonservative Amtmann Louis Dill war Mitglied. Alle hatten denselben Eid geschworen: Treue dem Großherzog, Gehorsam dem Gesetz, Verteidigung des Landes und der Verfassung gegen innere und äußere Feinde. Angriffe von außen erwartete man zunächst vom revolutionären Frankreich, was sich aber als unbegründet erwies. Verteidigung gegen den inneren Feind wurde von gemäßigten Liberalen und Republikanern verschieden gedeutet. Die einen verstanden die Bürgerwehr als eine Art staatliche Hilfstruppe zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung gegen radikale Umstürzler, die anderen als Miliz, die mit dem regulären großherzoglichen Heer zu einer vom Parlament kontrollierten Armee von „Bürgern in Uniform“ verschmolzen werden und die erreichten Freiheitsrechte verteidigen sollte. Diese unterschiedlichen Auffassungen führten im Dezember 1848 zum endgültigen Bruch. Anlass war die Gedenkfeier für den in Wien hingerichteten Robert Blum, Vorkämpfer der republikanisch gesinnten Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung. Der konservativ gesinnte Kommandant Grötz weigerte sich, der Bürgerwehr die geschlossene Teilnahme zu befehlen. Die republikanisch gesinnten Wehrmänner traten daraufhin nach der Feier aus der Bürgerwehr aus. Bürgermeister Drissler suchte die nunmehr rein konservative Truppe gegen den Widerstand des Bezirksamtes aufzulösen. In der Revolution des Jahres 1849 spielte die Bürgerwehr in Gernsbach keine tragende Rolle mehr.

 

Hoffnung auf Gleichberechtigung. Die Gernsbacher Juden 1848.

 In der Ausgabe der „Deutschen Zeitung“ vom 18. Mai 1848 fand sich eine Meldung, die besonders die jüdischen Mitbürger interessiert haben dürfte: Im Herzogtum Lauenburg (heute Kreis in Schleswig-Holstein) war der Hamburger Jurist Dr. Gabriel Riesser als Abgeordneter in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt worden. Riesser war der prominenteste von fünf Juden, die im ersten gesamtdeutschen Parlament saßen.

Das Parlament bestand aus etwa 600 Deputierten, durch Ein- und Austritte von Abgeordneten kam es im Lauf der Zeit seines Bestehens (Mai 1848 bis Mai 1849) auf etwa 800 Männer. Der Anteil der Abgeordneten jüdischen Glaubens betrug also 0,6 Prozent. Nach der Volkszählung von 1848 betrug der Anteil der jüdischen Bevölkerung in dem rund 2200 Einwohner zählenden Gernsbach etwa zwei Prozent (13 Männer, 16 Frauen und acht Kinder). Raphael Weil und Benedikt Kaufmann spielten in der Revolution eine besondere Rolle.

In Baden bemühten sich die Juden seit Jahren in zahlreichen Petitionen an den Landtag vergeblich um volle Gleichberechtigung. Von den Staatsämtern waren sie immer noch ausgeschlossen. In den Gemeinden konnten sie nicht Bürgermeister oder Gemeinderat werden, ihren Wohnsitz nicht frei wählen. Auch die liberale badische Märzregierung von 1848 änderte daran nichts. Einerseits wollte sie der Gesetzgebung des Nationalparlaments in Frankfurt nicht vorgreifen. Andererseits war sie froh, sich vorerst nicht mit diesem unpopulären Thema beschäftigen zu müssen. Erst im März 1848 hatte es im Odenwald, im Kraichgau und auch in Mannheim Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung gegeben.

Im August 1848 beschloss das Frankfurter Parlament über den Wortlaut des Paragraphen 146 der neuen Reichsverfassung: „Durch das religiöse Bekenntniß wird der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte weder bedingt noch beschränkt.“ Ein Abgeordneter plädierte dagegen mit dem Hinweis, die Juden könnten „vermöge ihrer Abstammung dem deutschen Volk niemals angehören“. Antijüdische Stereotype waren auch unter Liberalen damals verbreitet. Gabriel Riesser (1806-1863, erster Richter jüdischer Religion in Deutschland) verteidigte den von ihm initiierten Gesetzestext: „Die Juden werden immer begeistertere und patriotischere Anhänger Deutschlands unter einem gerechten Gesetze werden. … Es ist Ihnen vorgeschlagen, einen Theil des deutschen Volks der Intoleranz, dem Hasse als Opfer hinzuwerfen. Das werden Sie aber nimmermehr thun, meine Herren!“ Riessers Rede wurde mit großem Beifall aufgenommen, der Paragraph 146 mehrheitlich beschlossen. Damit waren die Juden gleichberechtigt – zum ersten Mal in der deutschen Geschichte.

Auch für die Juden in Gernsbach gab die Nationalversammlung in Frankfurt also Grund zur Hoffnung. Eine besonders aktive Rolle im Demokratisierungsprozess spielte Raphael Weil (geboren 1815). Er stammte aus einer weitverzweigten jüdischen Familie aus Bühl. Da sein Vater Konkurs gemacht hatte, wuchs er in sozial schwierigen Verhältnissen auf. Am 12. Oktober 1847 wurde er als Ratsschreiber von Gernsbach verpflichtet. Allerdings ging diese Ernennung wohl nicht ganz reibungslos vonstatten, wie eine Akte im Stadtarchiv verrät. Der Ratsschreiber musste auch Gemeindebürger sein, was bei Weil nicht der Fall war. Dennoch agierte er in der Folgezeit als Ratsschreiber mit dem recht stattlichen jährlichen Gehalt von 365 Gulden. Anscheinend wurde er vom demokratisch gesinnten Teil des Gemeinderates favorisiert.

Weil war ledig und wohnte am oberen Ende der Waldbachstraße bei einer Witwe im Haus. Er war entschiedener Republikaner. Während der badischen Revolution im Mai und Juni 1849 spielte er eine entscheidende Rolle, über die in dieser Serie später noch berichtet wird, und floh danach in die USA. Aus dem Jahr 1870 existiert ein Schreiben von ihm an das Bürgermeisteramt Gernsbach. Daraus geht hervor, dass er als Amtsträger des Staates New York im Einwanderungszentrum „Emigrant Landing Depot“ in Castle Garden (Südspitze von Manhattan) tätig war.

 

Benedikt Kaufmann - ein jüdisches Schicksal in Gernsbach.

 Das erste gesamtdeutsche Parlament in der Frankfurter Paulskirche beschloss im August 1848 die Gleichberechtigung der Juden. Das motivierte auch einige jüdische Mitbürger in Gernsbach, sich verstärkt für den demokratischen Fortschritt einzusetzen.

Benedikt Kaufmann (geboren 1820) war der einzige Sohn von Nathan und Nanette (Nendel) Kaufmann. Die Familie wohnte in der Amtsgasse Nr. 278, wahrscheinlich zwischen dem „Badischen Hof“ (heute Amtsstraße Nr. 23, damals Amtsgasse 269) und dem Alten Rathaus. Nathan Kaufmann (geboren 1785) war 1839 als Händler mit einem jährlichen Steuerkapital von 5720 Gulden gelistet. Das war mehr als ein Handwerksmeister im Durchschnitt hatte, aber kein Spitzenverdienst. 1810 taucht er in einer Liste noch als ledig und vermögenslos auf. Offenbar brauchte er zehn Jahre, um wirtschaftlich in Gernsbach Fuß zu fassen. Seine Kinder Benedikt (eigentlich Benjamin) und Klara (auch als Rahel bezeichnet) wurden spät geboren.

Benedikt hatte seinen Vornamen vermutlich von seinem ursprünglichen Namen „Benjamin“ an eine christlich klingende Form angeglichen. Bei der Anpassung an seine Umgebung halfen ihm wohl auch seine „Geselligkeit“ und „Gutmütigkeit“, die ihm seine Eltern in einem späteren Gnadengesuch bescheinigten. Von Anfang an gehörte er der im Dezember 1847 gegründeten Gernsbacher Lesegesellschaft an. Erlernt hatte er laut eigenen Angaben den Beruf des Großhandelskaufmanns. Seine Schwester Rahel war mit einem Cousin des Ratsschreibers Weil verheiratet.

In die Revolution wurde Kaufmann durch die sogenannte „Reichsverfassungskampagne“ im Mai und Juni 1849 verwickelt, über die später noch genauer in dieser Serie berichtet wird. Schon an dieser Stelle lässt sich aber feststellen, dass seine Rolle im Aufstand geringfügig war. Dennoch wurde er wegen Hochverrats am 10. Januar 1852 in zweiter Instanz zu einer Zuchthausstrafe von drei Jahren in normaler Haft oder zwei Jahren in Einzelhaft verurteilt. Zwischen seiner Verhaftung im Juli 1849 und dem endgültigen Urteil verbrachte er etwa 24 Monate lang in Untersuchungshaft. Dabei zog er sich laut ärztlichen Attesten eine schmerzhafte Gesichtsrose zu. Die Dauer der Untersuchungshaft wurde aber keineswegs, so wie heute, auf das Strafmaß angerechnet! Kaufmann wurde im März 1852 zur Verbüßung der vollen Strafe von zwei Jahren in das 1848 eröffnete Männerzuchthaus Bruchsal eingeliefert. Dort praktizierte man einen umstrittenen neuen Strafvollzug, nämlich die Einzelhaft. Die Häftlinge wurden dabei vollständig voneinander isoliert und durften nur Kontakt mit dem Gefängnispersonal haben. Wenn sie ihre Zelle verließen, zum Beispiel zum Gottesdienstbesuch, mussten sie eine Art Maske tragen, um sich gegenseitig nicht erkennen zu können.

Nach etlichen Gnadengesuchen, auch von Seiten seiner Eltern, kam Kaufmann im August 1853 frei. Die damals übliche Nebenfolge der Zuchthausstrafe, nämlich der Verlust seiner bürgerlichen Rechte, blieb allerdings bestehen. Ein selbständiges Geschäft konnte er nicht mehr führen. Um sich zu rehabilitieren, musste er den staatlichen Behörden sein „Wohlverhalten“ nachweisen. Sechs Jahre lang arbeitete er als „Comis“ (kaufmännischer Angestellter) der Firma David Dreyuß in Bruchsal. Dreyfuß stellte seinem Angestellten „Benedikt Leopold Kaufmann“ 1859 ein Zeugnis aus, wonach sich dieser „sowohl in politischer Beziehung als auch in Treu und Rechtschaffenheit“ zur „vollkommenen Zufriedenheit aufgeführt“ habe. Dieses Zeugnis wurde vom Bruchsaler Bürgermeister nochmals beglaubigt, worauf Kaufmann 1860, also elf Jahre nach der Revolution und acht Jahre nach seiner Verurteilung, wieder seine vollen Bürgerrechte erhielt.

Nach seiner Entlassung 1853 war Kaufmann nach Hilsbach (Stadtteil von Sinsheim im Kraichgau) gezogen, wo es eine jüdische Gemeinde gab. Der zweite Vorname „Leopold“, den er sich später zulegte, deutet auf seinen unbedingten Willen hin, sich so weit wie möglich in die deutsche Gesellschaft einzufügen. Was aus ihm und seinem Vater Nathan wurde, ist bis dato unbekannt. Seine Mutter Nendel starb im März 1859, ihr Grab befindet sich auf dem jüdischen Friedhof in Kuppenheim.

Ansicht von etwa 1916: Gegenüber vom Alten Rathaus, auf der linken Seite, sieht man das (heute nicht mehr existierende) Amtshaus (mit dem großen Dach), wo der reaktionäre Oberamtmann Albert Öhl residierte. Bei den Gernsbachern war er wenig beliebt.

Saebel Groetz

Säbel, Scheide und Patronentasche des Bürgerwehrkommandanten Wilhelm Grötz,
mit freundlicher Genehmigung des Stadtarchivs Gernsbach

Paulskirche

Die Frankfurter Paulskirche, Tagungsort der deutschen Nationalversammlung von Mai 1848 bis Mai 1849. Zeitgenössische Darstellung.

Amtsgasse 1

Amtsgasse (Holzstich 1858) zwischen Altem Rathaus und Badischem Hof. Hier befanden sich vermutlich Wohnsitz und Laden der Familie Nathan Kaufmann.

Amtsgasse.Kaufmann..2023

Gleicher Blickwinkel in die Amtsstraße, aufgenommen im Mai 2023

Haus Griesbach

Casimir Griesbach, schwerreicher Murgschiffer und Demokrat.

Von den vermögenden Gernsbachern beteiligten sich nur wenige an der Revolution von 1848/49. Bei den jüdischen Mitbürgern war es mit Benedikt Kaufmann nur ein einziger. Aus der Gruppe der Murgschiffer setzte sich neben Bürgermeister Carl Drissler nur Casimir Griesbach entschieden für den demokratischen Wandel ein.

Casimir Griesbachs (1809-1875) Vater war Wilhelm Christian Griesbach (1772-1838), einer der reichsten und angesehensten Bürger von Karlsruhe, Industrieller (Tabakfabrikant), Oberbürgermeister und liberaler Landtagsabgeordneter. Seine Mutter Elisabeth Beate Friederike Katz (1799-1840) stammte aus der gleichnamigen Gernsbacher Murgschifferfamilie. Seit 1835 Gernsbacher Bürger, wird Casimir Griesbach in der Volkszählung von 1848 als Eigentümer des Hauses „Stadt 334“ ausgewiesen (heute Hauptstraße 25). Das Haus wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts im klassizistischen Stil mit Bändern und Girlanden als Fassadenschmuck errichtet, der Hausplatz erscheint in einem Lageplan von 1787 mit dem Zusatz „Katz“. Der Merkurstab über der Tür (zwei sich um einen Stab windende Schlangen) deutet auf einen Kaufmann als Eigentümer hin.

1848 wohnten hier nur Griesbach selbst und eine Dienstmagd. Offenbar war der 39-jährige Murgschiffer nicht allzu gesellig, was durch ein Schreiben des Gernsbacher evangelischen Diakons Friedrich Kayser bestätigt wird, der ihn als „etwas eigen und sonderlich“ charakterisiert, aber auch als „sehr reichen Mann“. Griesbach war Mitbegründer der Lesegesellschaft und Vorstand des im Januar 1849 gegründeten, demokratisch gesinnten Turnvereins. 1849 verfasste er einen anonymen Artikel in der Zeitung „Wächter an der Murg“, in dem er großherzogliche Beamte der Wahlbestechung bezichtigte. Mit dieser Behauptung lag Griesbach nicht falsch, auch wenn er sie widerrufen musste. Schon als Vierzehnjähriger hatte er miterlebt, wie sein Vater durch amtliche Machenschaften aus dem Landtag gedrängt wurde. Das mag dem Jugendlichen im Gedächtnis haften geblieben sein.

Nach der Flucht des Großherzogs und seiner Regierung am 13. Mai 1849 unterstützte Griesbach die neue provisorische Regierung und den Kampf für Demokratie und Volkssouveränität (worüber später noch genauer berichtet wird). Nach der Niederschlagung des Aufstands 1849 wurde er verhaftet. Gegen eine Kaution von 20.000 Gulden konnte er sich aus der Untersuchungshaft befreien, durfte aber nicht nach Gernsbach zurückkehren, was ihm die Führung seiner Geschäfte unmöglich machte. Nach einer längeren Verschleppung des Prozesses wurde er im Januar 1852 in letzter Instanz wegen Hochverrats zu einer Zuchthausstrafe (zwei Jahre und sechs Monate oder wahlweise ein Jahr und acht Monate Einzelhaft) verurteilt sowie zur Zahlung eines Schadensersatzes an den Staat. Die Einzelhaft in Bruchsal hielt er aufgrund einer depressiven Störung nicht lange aus. Im April 1852 verlegte man ihn in die Heilanstalt Illenau, von wo er im November 1852 als momentan geheilt, aber haftunfähig nach Gernsbach entlassen wurde. Im Juli 1854 wurde ihm die Strafe schließlich erlassen.

An der Festsetzung des Schadensersatzes zeigte sich die Willkür der großherzoglichen Behörden besonders eklatant: Das Finanzministerium setzte die exorbitante Summe von 100.000 Gulden fest mit der Begründung, Griesbach habe keine Familie und daher sei der Betrag, anders als bei den meisten anderen Verurteilten, viel leichter einzutreiben. Griesbachs Vermögen wurde auf 168.437 Gulden geschätzt. Seinem Anwalt gelang es, diese Summe etwas nach unten zu korrigieren, worauf sich die Staatskasse mit dem immer noch ungewöhnlich hohen Betrag von 50.000 Gulden zufrieden gab. Das gesamte Vermögen wurde zunächst beschlagnahmt, wovon die Geschäftspartner in Kenntnis gesetzt wurden. Das kam einem gesellschaftlichen Ruin gleich.

Dennoch blieb Griesbach in Gernsbach. 1855 heiratete er eine Frau aus Handwerkerkreisen: Katharina Karoline Deuchler (1820-1896), die Tochter eines Schlossers und Wittwe eines Wagners. Das Paar bekam in rascher Folge drei Söhne. Taufpaten der 1856 und 1857 geborenen Kinder waren Brüder Griesbachs und Verwandte aus Karlsruhe, Taufpaten des jüngsten Sohnes (1858 geboren) der Apotheker Engelhard Sonntag und der Holzhändler Christian Bucherer aus Gernsbach, beide 1848/49 ebenfalls demokratisch gesinnt. Eine Urenkelin Casimir Griesbachs war Henriette Fischer-Zach, die sich in Gernsbach durch ihre Wohltätigkeit einen Namen gemacht hat.

 

„Haus Griesbach“ am Stadtbuckel Gernsbach, Wohnsitz von Casimir Griesbach, der sich als einziger Murgschiffer neben Carl Drissler entschieden für den demokratischen Wandel einsetzte

Hauss Griesbach Fassade
Eingang Griesbach mit Ohrenrahmung

Klassizistische Verzierungen an der Fassade von „Haus Griesbach“.

 

Portal von „Haus Griesbach“ mit Merkurstab.

Alois Haas, Gernsbacher Handwerksmeister mit Weitblick.

Von denen, die im Frühjahr 1849 dem republikanisch gesinnten Gernsbacher Turnverein beitraten (etwa 100 Männer), waren der größte Teil selbständige Handwerker und Gewerbetreibende. Sie gehörten mehrheitlich zur Mittelschicht und hatten oft sogar Grundeigentum von mehreren tausend Gulden, wie ein Steuerverzeichnis von 1839 im Stadtarchiv Gernsbach zeigt.

Zu dieser Gruppe von Gernsbacher Bürgern zählte neben Wilhelm Seyfarth, Siebmacher und Wirt der Gastwirtschaft „Bock“ (wir berichteten), auch der Feilenhauer Alois Haas (geboren 1808). Von den Gernsbacher Feilenhauern (Hersteller von Feilen, ein dem Schmied ähnliches Handwerk) war er als einziger mit einem vergleichsweise hohen steuerpflichtigen Grundbesitz von 4600 Gulden gelistet. In der Volkszählung von 1848 ist er als Eigentümer der Ölmühle (historisches Gebäude, heute Waldbachstraße Nr. 12) mit seiner Frau Regina und sechs minderjährigen Kindern eingetragen. Dazu wohnten ein Knecht, eine Magd, ein Geselle, ein Tagelöhner mit drei Kindern und ein weiterer Untermieter mit im Haus. Wie Seyfarth hatte auch Haas sich neben seinem Handwerksbetrieb offenbar noch ein zweites Standbein zugelegt, was für seinen Weitblick spricht.

Die Entwicklung hin zur industriellen Produktion von Feilen begann schon um 1834. Reinhard Mannesmann aus der gleichnamigen Unternehmerfamilie rationalisierte die Herstellung, wodurch die immer preisgünstigeren Werkzeuge für das Handwerk zur ernsthaften Konkurrenz werden konnten. Der zusätzliche Betrieb einer Mühle mag Haas da zukunftsträchtig erschienen sein. Der 1839 einzige Ölmüller am Ort, Johann Buck in der Bleichstraße, versteuerte immerhin Grundeigentum im Wert von 10440 Gulden! Um 1850 brachte die Mühle von Haas aber keine Gewinne, da sie, nach einem Bericht der Ehefrau von Alois Haas, wegen anhaltender Trockenheit zeitweise nicht betrieben werden konnte. Wie Wilhelm Seyfarth gehörte auch Haas zu denen, die wegen Teilnahme am Aufstand 1849 verhaftet und 1852 zu einer Zuchthausstrafe verurteilt wurden. In dieser Zeit kümmerte sich sein ältester Sohn Joseph (geboren 1832) um das Geschäft und die zahlreiche Familie. Als er 1852 zum Militärdienst eingezogen werden sollte, kam der Betrieb in ernsthafte Schwierigkeiten.

Joseph Haas bat um Befreiung vom Militärdienst oder Begnadigung des Vaters: „Und so liegt mir nun nicht nur das Gewerbe meines Vaters, die Feilenhauerei, und die Erhaltung desselben (des Vaters), für welchen nicht unbedeutende Verpflegungskosten zu bezahlen sind (die Sträflinge mussten für ihre Verköstigung selbst aufkommen), sondern auch (die Erhaltung) meiner Mutter und sechs noch minderjähriger jüngerer Geschwister, von welchen das jüngste erst ein Viertel Jahr alt ist, ob.“ Der Gernsbacher Gemeinderat und der katholische Stadtpfarrer Carl Krebs stellten dem Joseph Haas gegenüber der Behörde eine glänzende Beurteilung aus. Daraufhin wurde er für ein Jahr vom Militärdienst beurlaubt, sein Vater Alois im August 1853 begnadigt. Auf die Wiedereinsetzung in seine bürgerlichen Rechte musste Letzterer allerdings nochmals drei Jahre warten.

Haas, der wie Seyfarth auch im Gemeinderat saß, sah seinen Berufsstand durch die gemäßigt liberale Politik immer weniger vertreten. Der großenteils konservative Beamtenapparat wurde als Belastung empfunden. Der zweite Amtmann in Gernsbach sei, wie der zuständige Regierungsdirektor schon 1842 feststellte, wohl nur wegen der Unfähigkeit des allerdings weiter aus Steuergeldern bezahlten Oberamtmanns Albert Öhl nötig. 1848 beschäftigte sich der Landtag mit der von der Bevölkerung aus Gründen der Steuergerechtigkeit dringend geforderten „wachsenden Einkommenssteuer“, allerdings ohne Ergebnis. Im Laufe des Jahres 1848 wurde zudem immer klarer, dass die Monarchen keinen Systemwechsel wollten. Kein Wunder, dass Alois Haas, wie sehr viele andere, mehr der Republik zuneigte. Gestorben ist er wohl nach 1866. 1867 erscheint er beim Tod seiner achtmonatigen Enkelin, einer Tochter seines Sohnes Joseph, nicht als Zeuge. Beim Tod eines weiteren Kindes von Joseph im Alter von zwei Tagen 1868 sind im Sterbebuch der Ölmüller Jakob Haas und der Feilenhauer Alois Haas als Zeugen angegeben, wahrscheinlich zwei Söhne des Demokraten von 1848/49.

 

Oelmuehle 1

Die historische Ölmühle in der Waldbachstraße Nr. 12 befand sich 1848 nachweislich im Eigentum des Feilenhauers Alois Haas.

Ratsschreiber und Polizeiwachtmeister, die konsequentesten Demokraten in Gernsbach.

1848/49 befürworteten zumeist Handwerker, kleinere Gewerbetreibende und Freiberufler die Einführung einer freiheitlich-demokratischen Verfassung für ganz Deutschland. Am konsequentesten setzten sich aber der Gernsbacher Ratsschreiber Raphael Weil und der Polizeiwachtmeister Karl Wilhelm Rothengatter für den demokratischen Wandel ein. 

Die beiden erhielten von allen Gernsbachern die höchsten Strafen: Weil wurde zu 18 Jahren Zuchthaus verurteilt, Rothengatter zu neun Jahren. Beide entzogen sich der Bestrafung durch die Flucht. Weil, der aus Bühl stammte und seit Oktober 1847 in Gernsbach als Ratsschreiber amtierte, sah in der neuen Reichsverfassung einen Weg zur Gleichberechtigung der jüdischen Minderheit (wir berichteten). Die Motive von Polizeiwachtmeister Rothengatter lassen sich zum Teil durch sein soziales Umfeld erklären. Geboren wurde er 1819 als Sohn eines Schuhmachermeisters. Er erlernte den Beruf des Seifensieders und heiratete 1845 Juliane Hirth (1820-1892), ein von seinen Schwiegereltern angenommenes Kind. Im Juli 1846 finden wir ihn dann auf der Besoldungsliste der Stadt Gernsbach in der Position eines Polizeiwachtmeisters mit einem Grundgehalt von 160 Gulden im Jahr, wovon sich kaum eine Familie versorgen ließ.

Laut der Volkszählung von 1848 lebte Rothengatter im Haus seines Schwiegervaters Jakob Hirth, ebenfalls Schuster. Dieses Haus befand sich an der Hauptstraße unterhalb der Turmgasse. Im Schusterhandwerk sah Rothengatter wohl keine großen Chancen. In Gernsbach gab es 1848 über 30 Schuhmacher. Seifensieder gab es dagegen nur drei, von denen einer neben seinem Handwerk noch einen Handel betrieb und Grundbesitz im Wert von 5230 Gulden versteuerte. Rothengatters Vorgänger im Amt des Polizeiwachtmeisters verdiente 190 Gulden, offenbar musste er dabei aber seinen Beruf als Weber nicht aufgeben. Auch die dem Polizeiwachtmeister beigeordneten Hilfskräfte kamen ohne zusätzlichen Verdienst nicht aus. Die beiden Polizeidiener erhielten jeweils 85 Gulden, die sechs Nachtwächter, von denen vier Taglöhner und zwei Zimmerleute waren, 40 Gulden pro Jahr. Rothengatter hat die Polizeistelle eventuell ebenfalls als zusätzliche Verdienstmöglichkeit übernommen. Ende 1848 kam sein zweites Kind zur Welt. Die Forderungen der radikalen Demokraten nach sozialen Reformen und einem „Ausgleich des Missverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit“ hat er sicher unterstützt.

Als das Scheitern des Aufstands 1849 absehbar wurde, verhielten sich viele Gernsbacher Demokraten vorsichtig und abwartend. Nicht so Wilhelm Rothengatter. Er unterstützte konsequent und rückhaltlos die revolutionäre Regierung. Bei der Verhaftung von reaktionär gesinnten großherzoglichen Beamten ging er rücksichtslos vor. Den Gernsbacher Wehrpflichtigen drohte er im Fall von Desertion mit dem Standrecht. Seine Richter warfen ihm „Terrorismus“ vor und bewerteten sein Verhalten besonders unnachsichtig, denn als Polizeiwachtmeister war er eben auch Vertreter der großherzoglichen Obrigkeit gewesen. Rothengatter floh am 29. Juni mit den abziehenden Freischärlern aus Gernsbach.

Im Dezember 1857 stellte seine Schwiegermutter ein Gnadengesuch, da es eine Amnestie für die Aufständischen gab, die nicht mehr als acht Jahre Zuchthaus erhalten hatten. Wie sie schreibt, lebte ihr „Tochtermann“ mit seiner Familie teilweise in der Schweiz und in Frankreich, seit 1852 in Amerika. „Bittere Reue über sein Vergehen und große Sehnsucht nach seinem Vaterland sind in allen seinen Briefen niedergelegt“, heißt es, und weiter: „Durch seine langjährige Verbannung dürfte sich derselbe einigermaßen selbst bestraft haben; er ist Vater von fünf kleinen Kindern, welche nebst seiner Frau vielen Kummer, Sorgen und alle möglichen Entbehrungen in fremden Landen erdulden mußten.“ Die Schwiegermutter legt, wie sie bildhaft schreibt, ihre „ehrfurchtsvolle Bitte“, nämlich die Amnestie auch auf ihren Schwiegersohn anzuwenden, „zu den Stufen des Thrones Eurer Königlichen Hoheit“ nieder. Ihr Gesuch wird abgelehnt. Wann und wo Wilhelm Rothengatter starb, ist bislang unbekannt. Seine Frau starb 1892 in Philadelphia. Sein Enkel anglisierte den Familiennamen in „Redgate“. Urenkel Sheridan Clifford Redgate (1918-1994) kämpfte in der US-Marine gegen Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Eine Kurzbiographie mit Foto ist auf der Veteranenseite www.ryevets.org zu finden.

 

Hauptstr 45-49

Polizeiwachtmeister Wilhelm Rothengatter wohnte 1848 zwischen dem Haus Hauptstraße 45 (Ecke Hauptstraße/Storrentorstraße, Geburtshaus des Malers Ludwig Dill) und der Turmgasse. Die steinerne Treppe vor dem Eingang zu Haus Nr. 49 (Ecke Hauptstraße/Turmgasse) weist noch auf Bausubstanz aus dem 19. Jahrhundert hin.

Fürstendiener und Reaktionär. Ludwig Dill, der unbeliebteste Beamte von Gernsbach.

In den Jahren 1848/49 repräsentierten die Beamten in Gernsbach das Regime des Großherzogs. Das Bezirksamt Gernsbach, zuständig für das Murgtal von Forbach bis Ottenau, wurde von Oberamtmann Albert Öhl und Amtmann Ludwig Dill geleitet. Dill, zuständig für Justizangelegenheiten, war selbst bei konservativ gesinnten, regierungstreuen Bürgern verhasst. An seiner Person wird besonders deutlich, was die Gernsbacher am Obrigkeitsstaat auszusetzen hatten.

Ludwig (oder Louis) Dill (1812-1887) wurde in Karlsruhe als Sohn eines großerzoglichen Beamten geboren. Eigentlich wollte er Musiker werden, studierte dann aber in Heidelberg und Freiburg Jura. 1845 wurde er als Assessor nach Gernsbach versetzt und im August 1848 zum Amtmann befördert. Mit seiner Familie (Frau und zwei kleine Kinder) wohnte er 1848 zur Miete im Haus an der Ecke Hauptstraße/Storrentorstraße. Die Kreisregierung in Rastatt hielt den mit 900 Gulden jährlich besoldeten Dill, im Gegensatz zu seinem mit 1800 Gulden besoldeten Vorgesetzten Öhl, für eine „tüchtige Personalbesetzung“. Öhl, dessen umfangreiche, im Landesarchiv Karlsruhe aufbewahrte Personalakte zum großen Teil aus Gesuchen um Gehaltserhöhung besteht, legte dem allzu tüchtigen Untergebenen wenn möglich Steine in den Weg. Diese Zustände dürften bei den Gernsbachern Unverständnis und Ärger erzeugt haben.

Dill war ein treuer Diener des Großherzogs und tat alles, um das fürstliche Regime zu stützen. Am 20. Mai 1849 stellte eine Gemeindeversammlung in Gernsbach fest: „Namentlich hat dieser Beamte (Dill) in Ausübung der Justizpflege seine Stellung als Richter in der Art kompromittiert, daß er sowohl Kläger als Beklagte über ihre politischen Ansichten zu Protokoll nahm und auch in dieser Beiziehung seine Bescheide erließ.“ Aufgrund dieser Gesinnungsjustiz war Dill daher auch der erste Beamte in Gernsbach, der sofort entlassen wurde, nachdem sich nach der Flucht des Großherzogs und seiner Minister am 13. Mai 1849 in Karlsruhe eine neue Regierung gebildet hatte. Die Amtsenthebung erfolgte durch Raphael Weil, Gernsbacher Ratsschreiber und nun Vertreter der revolutionären Landesregierung im Murgtal. Dill protestierte zunächst mit Erfolg gegen die Amtsenthebung in Karlsruhe. Er pochte dabei auf Beschlüsse der revolutionären Regierung, deren Mitglieder er gegenüber Gleichgesinnten nur als „s.g. Minister“ (sogenannte Minister) bezeichnete. Die neue Regierung war bestrebt, geordnete Verhältnisse aufrecht zu erhalten, und entließ großherzogliche Beamte daher nur ungern. Dill wurde erst auf ausdrücklichen Beschluss der Gemeindeversammlung in Gernsbach am 23. Mai 1849 seines Amtes enthoben, allerdings auch da nur vorläufig.

Der Amtmann nutzte die ganz unrevolutionäre Zurückhaltung der neuen Machthaber, indem er auch weiterhin aus seinen erzkonservativen, antidemokratischen Ansichten keinen Hehl machte. Als die gewaltsame Niederschlagung der Bewegung abzusehen war, wurde er als „reaktionärer Beamter“ am 25. Juni 1849 „mit etwa 30 Bewaffneten zum Entsetzen meiner armen Familie aus dem Bette geholt und mit noch 10 anderen Leidensgefährten auf Leiterwägen mit gehöriger Anzahl von Bewaffneten in die Festung Rastatt gebracht“, wie er später schreibt. Allerdings brachte man die Gefangenen standesgemäß im Gasthof „Kreuz“ unter, wo Dill sogar einen beruhigenden Brief an seine Gattin nach Gernsbach schreiben konnte. Dill betrachtete sich als „Kriegsgeisel“. Für die Lage der Soldaten in Rastatt hatte er kein Verständnis, er beschreibt sie als „wüthende Soldateska“.

Am 28. Juni wurden die Gefangenen mit dem Zug nach Freiburg gebracht, wo Carl Damm ihre Freilassung bewirkte. Damm war der Präsident der im Mai 1849 gewählten konstituierenden Versammlung, die Baden eine neue demokratische Verfassung hatte geben sollen. Obwohl Damm ein Anhänger der Republik war, äußerte sich Dill nachher sehr positiv über ihn. Am 4. Juli 1849 übernahm Dill die Vertretung des erkrankten Oberamtmanns Öhl  in Gernsbach und ließ 34 mutmaßliche Beteiligte des Aufstandes zügig verhaften. Das machte, wie er selbst schreibt, sein Verbleiben in Gernsbach unmöglich, da er Drohbriefe erhielt. Schon am 7. Oktober 1849 suchte er deshalb um seine Versetzung nach Gengenbach nach. Dill deutete die Revolution aus der Sicht des fürstlichen Beamten: Großherzog Leopold, der „die auf Tugend und Gesittung gegründete wahre bürgerliche Freiheit ins Leben zu führen stets bemüht war“, habe vor seinem eigenen „verblendeten“ Volk fliehen müssen. Schon damals sahen das viele Zeitgenossen anders.

Von Gengenbach wurde Ludwig Dill als Amtsrichter nach Durlach versetzt und nahm 1862 seinen Abschied. Er zog mit seiner Familie nach Stuttgart, der Stadt der Schriftsteller, Buchhändler und Verlage, wo er als Mitglied der Künstlervereinigung „Strahlendes Bergwerk“ seinen literarischen und musischen Ambitionen nachging. Seine Sonaten sind heute fast unbekannt.  Erfolgreicher waren seine „Vaterländischen Gedichte aus dem Jahr 1870/1871“. Darin preist er die Kriege, die zur Schaffung des Deutschen Reiches von 1871 führten. Sogar Großherzog Friedrich lobte das Werk, in dem sich Verse von nationalem Pathos finden wie „In die Waage aller Völker/Auf dem weiten Erdenrund/Wirft das wuchtge Schwert der Deutsche/Wirft sein Wort der neue Bund.“ Dass auch die Bewegung von 1848/49 ein einiges Deutschland gewollt hatte, daran erinnerten sich die Deutschen erst viel später wieder.

 

Haus Dill 1

Ludwig Dill wohnte 1848 im Haus Hauptstraße Nr. 45 (Ecke Hauptstraße/Storrentorstraße). Hier wurde 1848 sein Sohn, der spätere Maler Ludwig Dill, geboren.

Ludwig Dill

Amtmann Louis Dill

Foto: Stadtarchiv Gernsbach

Pressefreiheit in Gernsbach. Der „Wächter an der Murg“ lässt sich den Mund nicht verbieten.

Am 2. Oktober 1848 erreichte das Großherzogliche Bezirksamt Gernsbach ein Schreiben, das die Gründung eines Wochenblattes mit Namen „Wächter an der Murg“ anzeigte. Unterschrieben hatten die Gernsbacher Bürger Friedrich August Schickardt, Wilhelm Seyfarth und Sebastian Layer als Redakteure sowie Wilhelm Seyfarth und Gustav Wallraff als Bürgen für die Hinterlegung der bei Gründung einer Zeitung nötigen 1000 Gulden. Das Schicksal des vom Bezirksamt kurz zuvor verbotenen „Murgthalboten“ (wir berichteten) vor Augen, überließen die Blattmacher diesmal nichts dem Zufall.

Schickardt (52, Murgschiffer), Seyfarth (42, Wirt des Gasthauses „Bock“ und Gemeinderat) und Wallraff (42, Wirt des „Badischen Hofs“) waren Befürworter der Republik. Das ist von Sebastian Layer (39, Kaufmann und Verleger der neuen Zeitung) ebenso anzunehmen. Er war mit einer Schwester des führenden Ettlinger Demokraten Philipp Thiebauth verheiratet. 1848 besaß Layer ein Haus an der Gernsbacher Hofstätte (heute Hausnummer 8) und handelte laut Anzeigen mit verschiedenen Waren (Geräte zum Ausmessen von stehenden Bäumen, Wolle, Schreibmaterialien, Farben, Branntwein, Käse, Fische, Zucker, Tee, Kaffee). Sein Geschäft fügte sich also gut in das Ensemble der Hofstätte mit ihren sechs Gastwirtschaften (Hirsch, Stern, Krone, Sonne, Laub, Traube) ein. Schickardt schied im November 1848 aus der Redaktion aus, nach dem frühen Tod seiner Frau stand er mit sieben Kindern allein da. Nach dem 20. Januar 1849 ist im „Wächter“ als einziger Redakteur und Verleger nur noch Jacob Bürgin angegeben, der ein Haus in der Waldbachstraße besaß.

Gleich in der ersten Ausgabe des „Wächters“(8. Oktober 1848) erklärten die Redakteure, dass sie mit dem „Wächter“ eine „oft beklagte Lücke“ schließen wollten, nämlich die Berichterstattung auch für weniger gebildete Schichten in allgemeinverständlicher Sprache. „Es will der ‚Wächter an der Murg‘ hineintreten in das bescheidene Haus des Handwerkers und Landmannes, will ihm sagen – in traulicher Sprache, wohl aber entschieden, ohne Rückhalt und ohne Menschenfurcht –, was die Freiheit ist, von der er in neuester Zeit so viel gehört und nichts empfunden; welche Rechte es sind, die ihm gebühren und fort und fort bestritten werden…“. Die Zeitung will „für die ewigen Rechte des Volkes streiten, und für diejenige Staatsform, die sie am sichersten gewähren kann“.

Im Anschluss daran wurden die „März-Errungenschaften“ erklärt, also die vom Volk schon lange geforderten Reformen, welche die Fürsten im März 1848 im Angesicht der Revolution in Frankreich gewährt, beziehungsweise versprochen hatten. Zu diesen Reformen zählen laut „Wächter“: Verminderung der Unzahl von Beamten, Ermäßigung der Steuern, öffentliche Schwurgerichte, „Preßfreiheit, ohne welche kein Schatten von Freiheit bestehen kann“, „Aufhebung der Unzahl von Verordnungen, Regeln, Vorschriften, Bestimmungen, Normen und Formen, die den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen lassen“, Volksbewaffnung, Vereinsfreiheit, Einigung des zerrissenen Deutschlands zu einem „mächtigen, glorreichen und freien deutschen Reiche“ und Schutz des Einzelnen vor den „willkürlichen Übergriffen und Schikanen einer an unbeschränkte Gewalt gewöhnten Polizei“.

Die Schikanen ließen trotz der in Baden bereits gesetzlich verankerten Pressefreiheit nicht lange auf sich warten. Die erste Ausgabe des „Wächters“ hatte über eine angebliche „geheime Polizei“ in Gernsbach spekuliert. Durch die Vermehrung der Gendarmerie (staatliche im Gegensatz zur städtischen Polizei) um zwei Mann hatte sich offenbar das Gerücht erhärtet, mit Hilfe von Denunzianten aus der Bevölkerung sollten die Gernsbacher in bewährter Manier von der Obrigkeit bespitzelt werden. In dem Artikel wird „Aufklärung“ von der Behörde verlangt. Der Gernsbacher Amtmann Louis Dill griff den „Wächter“ daraufhin im Rastatter Wochenblatt an, worüber der „Wächter“ am 22. Oktober berichtete. Dill dementierte die Existenz einer „geheimen Polizei“ und behauptete, der „Wächter“ habe das Gerücht erfunden. Der Amtmann setzte also bewusst „fake news“ ein, die zur Verfolgung der Zeitung hätten führen können. Die Redaktion reagierte scharf. Ein Gerücht habe es nachweislich wochenlang gegeben. Einer Lokalzeitung müsse es erlaubt sein, dem auf den Grund zu gehen, auch wenn, so die Redaktion in böser Vorahnung, „jemand seine öffentliche Stellung dazu missbrauchen sollte, die Bürgermeister von der Einsendung ihrer Bekanntmachungen an den ‚Wächter‘ abzuhalten“, also der Zeitung erheblichen Schaden zuzufügen. Die Presse ließ sich den Mund nicht mehr verbieten. Der „Wächter an der Murg“ berichtete über die deutsche und badische Demokratie- und Freiheitsbewegung bis zu ihrem gewaltsamen Ende im Juni 1849.

Waechter Nr. 2

Zweite Ausgabe der Zeitung „Wächter an der Murg“ vom 15. Oktober 1848

Foto: Stadtarchiv Gernsbach

Hofstatte 8 klein

 

Kaufmann Sebastian Layer betrieb den Verlag der Zeitung „Wächter an der Murg“ in seinem Haus an der Hofstätte (heute Hofstätte Nr. 8, Ecke Hofstätte/Hauptstraße) von Oktober 1848 bis Januar 1849

Barrikadenwein und Kartätschenwürste. Wienerle mit Knalleffekt

„Barrikaden-Wein zu 3 kr. und Kartätschen-Würste, neueste Wiener; sind probat“. So annoncierte Gustav Wallraff, Wirt der Gaststätte „Zum Badischen Hof“ in der Gernsbacher Amtsgasse, in der Wochenzeitung „Wächter an der Murg“ vom 22. Oktober 1848. Mit „probat“ (lateinisch „geeignet“, „tauglich“) unterstrich er die Qualität seiner Würste. Die provokante Bezeichnung der angebotenen Speisen (Kartätsche bezeichnet ein Artilleriegeschoss mit Schrotladung) kam nicht von ungefähr.

Zunächst ist interessant, dass Wallraff seine Würstel überhaupt „Wiener“ nannte. Laut der Webseite des österreichischen Bundesministeriums für Land- und Forstwirtschaft handelt es sich dabei um die seit dem Mittelalter in Deutschland bekannten Frankfurter Würstchen, deren Wiener Variante um 1805 von dem Metzger Johann Georg Lahner erfunden wurde, der in Frankfurt sein Handwerk gelernt und sich später in Wien niedergelassen hatte. Der Erfolg seiner „Frankfurter Würstel Wiener Art“ war so groß, dass sie bald in der ganzen Welt als „Wiener Würstel“ bekannt wurden. Seit 1842 sind sie in Mailand, seit 1861 in Amsterdam und spätestens seit 1848 also auch in Gernsbach als „Wiener“ bekannt!

Der Preis für den „Barrikaden-Wein“ lag laut dem Bericht des „Wächters“ über die Weinernte in der Region mit drei Kreuzern nur leicht über dem Handelspreis für den Schoppen Wein (0,596 Liter) von 2,5 bis 2,8 Kreuzern. Was die angepriesenen „Kartätschen-Würste“ kosteten, wird nicht angegeben. Ihre Bezeichnung als „neueste Wiener“ charakterisierte die Wurst wahrscheinlich nach ihrem Unterschied zum „Frankfurter Würstchen“, das kein Rindfleisch enthielt. Wallraff hatte aber sicher noch einen anderen Zusammenhang im Auge.

Der ausführliche Leitartikel des „Wächters“ der Ausgabe vom 22. Oktober befasste sich mit „Oesterreich’s Lage“. Die Zustände in der Donaumonarchie hatten sich seit März 1848 zu einem gefährlichen Brennpunkt für die Demokratiebewegung auch in Deutschland entwickelt. In Wien war es im März 1848 zu Aufständen gekommen, bei denen Bürger, Studenten und Arbeiter mehr Freiheit und politische Mitsprache forderten. Der Kaiser hatte Pressefreiheit und eine Verfassung versprochen, Staatskanzler Metternich, die Symbolfigur für das System der Unterdrückung, hatte das Land verlassen. Während die Bürger nun weitgehend zufrieden waren, kämpften Studenten und Arbeiter nun im sogenannten Wiener Oktoberaufstand 1848 für eine Aufrechterhaltung der Demokratisierung, soziale Gerechtigkeit und das Selbstbestimmungsrecht der Ungarn, die sich gegen die Herrschaft des Habsburger Regimes auflehnten. Es kam zu blutigen Kämpfen um Wien, wo wieder Barrikaden gebaut wurden und Kartätschen knallten. Gegen den heftigen Widerstand großer Teile der Bevölkerung zwang Alfred Fürst Windischgrätz, der vorher den Aufstand der Tschechen in Prag niedergeschlagen hatte, auch die Stadt Wien am 31. Oktober zur Kapitulation.

Der „Wächter“ beschrieb die aktuelle Lage in Wien ziemlich genau und kam zu dem Schluss, „daß Wien dazu auserkoren sei, nicht allein den Kampf für die Freiheit, sondern auch für die Nationalität der östreichischen Völker führen zu müssen“. Die Zeitung sah die Gefahr, dass der österreichische Vielvölkerstaat in seine nationalen Bestandteile zerfallen könnte. Im anschließenden Lagebericht eines Korrespondenten in Wien heißt es prophetisch: „In den Flächen um Wien wird sich Deutschlands Schicksal entscheiden.“ Diese Einschätzung der Redaktion des „Wächters“ am 22. Oktober 1848 sollte sich im Nachhinein als richtig erweisen: Mit dem Sieg der Reaktion in Wien wurde auch die Reaktion in Deutschland enorm gestärkt, so dass ein Erfolg der Demokratie- und Verfassungsbewegung gegen die wieder erstarkten Fürsten schon am Ende des Jahres 1848 in bedenklich weite Ferne rückte.

Die provokante Bezeichnung, die Gustav Wallraff im Oktober 1848 für seinen Wein und seine Würste wählte, zeigt, dass er die politischen Vorgänge auch im Ausland genau registrierte und den Einsatz von Gewalt als letztes Mittel zur Rettung der Demokratiebewegung gegen den Widerstand der Fürsten befürwortete oder zumindest billigend in Kauf nahm. In Anbetracht der Tatsache, dass seit März 1848 in Berlin, Wien und anderen Städten viele Barrikadenkämpfer ihr Leben verloren hatten, war seine knallige Werbung nicht besonders feinfühlig, aber soweit hatte er wahrscheinlich gar nicht gedacht. Selbst seine Gegner charakterisierten ihn später als „redlichen und gutmüthigen Mann von leicht erregbarem Temperament“. Dass schon bald auch in Gernsbach Barrikaden gebaut und Kartätschen fliegen würden, damit rechnete er gewiss nicht ernsthaft.

 

Totenfeier für Robert Blum spaltet Gernsbach.

„Am 9. Nov. 1848, Morgens halb 8 Uhr, wurde in Wien der Reichstagsabgeordnete Robert Blum auf Befehl des kais. kön. (kaiserlich-königlichen) Feldmarschalls, Fürsten zu Windischgrätz, erschossen“. So begann der schwarz umrandete, mehr als ganzseitige Nachruf im Gernsbacher Wochenblatt „Wächter an der Murg“ vom 26. November 1848. In der Folge wurden in vielen deutschen Städten Trauerfeiern für den wohl prominentesten demokratischen Abgeordneten der Frankfurter Paulskirche organisiert – auch in Gernsbach, dort allerdings mit einer für den Frieden der Stadt unheilvollen Wirkung.

Robert Blum, 1807 in Köln geboren, stammte aus ärmlichsten Verhältnissen. Der Besuch einer höheren Schule war ihm nicht möglich. Seine Bildung verdankte er einem unermüdlichen Selbststudium. Er erlernte zunächst das Handwerk des Gelbgießers (Herstellung von Gürtelschnallen aus Messing), arbeitete sich zum Angestellten eines Laternenfabrikanten, Theatersekretär am Leipziger Stadttheater, Journalisten und Schriftsteller hoch und machte sich schließlich als Verleger in Leipzig selbständig. Dank seines außergewöhnlichen Organisations- und Rednertalents wurde ihm die Politik zur Berufung. Als Mittelpunkt eines weitverzweigten demokratischen Netzwerkes wurde er 1848 als einer der ganz wenigen Nicht-Akademiker in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt. Blum war Republikaner und Sozialreformer, aber daneben auch ein Pragmatiker, der Gewalt grundsätzlich ablehnte und immer zu Kompromissen bereit war – so lange, bis keine Kompromisse mehr möglich waren.

Im Oktober 1848 kam es in Wien zu einem erneuten Aufstand gegen das kaiserliche Regime, das seine absolutistische Machtvollkommenheit wieder herstellen wollte. Blum erkannte, dass dieses Regime gar keinen Kompromiss wollte. Die republikanisch gesinnten Gruppierungen der Paulskirche schickten vier Gesandte nach Wien, darunter Blum, um den Aufständischen ihre Solidarität auszusprechen. Blum empfand dieses Vorgehen als legitim, da es ja die kaiserliche Regierung war, die sich nicht an das Recht hielt und stattdessen ihre Untertanen massakrierte. Als die Gesandten nicht mehr aus dem belagerten Wien herauskamen, griff Blum schließlich selbst zur Waffe, um bei der Verteidigung der Stadt mitzuhelfen. Dafür wurde er nach der Kapitulation standrechtlich in der Brigittenau (heute ein Stadtteil im Norden Wiens) erschossen, obwohl Zehntausende dasselbe getan hatten, ohne belangt zu werden, und obwohl er als Abgeordneter der Paulskirche Immunität genoss.

Durch ganz Deutschland ging ein Aufschrei der Wut und des Entsetzens. Robert Blum war im öffentlichen Bewusstsein ein Märtyrer der Freiheit. Deutschlandweit kam es zu zahlreichen Gedenkfeiern, in der Region unter anderem in Baden-Baden, Bühl, Steinbach, Rastatt und Karlsruhe. In Gernsbach wurde die Feier von den demokratisch gesinnten Bürgern Franz Kürzel, Wilhelm Seyfarth, Casimir Griesbach und Christian Bucherer organisiert. Sie fand am Sonntag, den 3. Dezember statt. Der „Wächter“ berichtete ausführlich darüber am 10. Dezember. Die Teilnehmer sammelten sich vor dem (Alten) Rathaus, von wo ein aus mehreren hundert Menschen bestehender Trauerzug zum Kornhaus zog, wo der eigens angereiste zuständige Landtagsabgeordnete, der republikanisch gesinnte Pfarrer Friedrich Lehlbach, Blum in so mitreißenden Worten würdigte, dass laut „Wächter“ „ungeachtet des unausgesetzt strömenden Regens das Volk beharrlich und aufmerksam“ lauschte. Eine Abordnung Badener Turner mit Musikkapelle wurde mit Jubel begrüßt. Geplant war auch die geschlossene Teilnahme der Gernsbacher Bürgerwehr, um die Einheit der demokratisch Gesinnten zu demonstrieren. Dieser Plan scheiterte allerdings.

Murgschiffer Wilhelm Grötz, der Kommandant der Bürgerwehr, weigerte sich, der Truppe das geschlossene Antreten zu befehlen und nahm auch selbst nicht an der Feier teil. Etliche Offiziere und Mannschaften taten es ihm gleich, so dass die Bürgerwehr bei der Blum-Feier große Lücken in ihren Reihen aufwies. Selbst die Musikkapelle war nicht vollständig, da die acht zur Kapelle gehörigen Trommler einschließlich Tambourmajor (Anführer der Musiker) fehlten. Der „Wächter“ berichtet von „Intrigen“ der „Schreibstubenherrschaft“. Damit war das Gernsbacher Bezirksamt gemeint, das „alles aufgeboten“ habe, „um die Feier zu hintertreiben“ und „Zwietracht unter die Bürgerwehr zu schleudern“. Ein Beobachter, so bemerkte der „Wächter“, hätte am 3. Dezember den „großen Prinzipienkampf unserer Tage auf den Straßen unserer Stadt sich im Kleinen abspiegeln sehen können.“ Am Schicksal Robert Blums zeigte sich in der Tat der große Gegensatz von 1848/49, nämlich der zwischen der demokratischen Umformung des politischen Lebens und der Rückkehr zum alten System des Absolutismus. Blum hatte erkannt, dass die Zusammenarbeit mit den alten Mächten keine Alternative sein konnte. „Ich sterbe für die Freiheit, möge das Vaterland meiner eingedenk sein“, soll er vor seiner Hinrichtung gesagt haben. In Gernsbach führte die Würdigung seiner Person zu einer tiefen Spaltung innerhalb der Bürgerschaft, was sich bald besonders am Kampf um die Bürgerwehr zeigen sollte.

 

Ordnung oder Terror. Gernsbach zerfällt in verfeindete Lager

Die Gedenkfeier für den vom österreichischen Gewaltregime erschossenen Paulskirchenabgeordneten Robert Blum führte seit Ende 1848 zu einem immer tiefer werdenden Riss innerhalb der Gernsbacher Bürgerschaft. Die konservativ Gesinnten traten aus der Gernsbacher Lesegesellschaft aus. Die Republikaner gründeten im Januar den Gernsbacher Turnverein, die Konservativen schlossen sich im Februar 1849 zum „Vaterländischen Verein“ als Gegenoffensive zusammen. Besonders um die Bürgerwehr tobte ein erbitterter Streit.

 Murgschiffer Wilhelm Grötz (1812-1872), Gernsbacher Gemeinderat und gewählter Kommandant der Bürgerwehr, hatte sich am 3. Dezember geweigert, seine Truppe geschlossen zur Trauerfeier für Robert Blum antreten zu lassen (wir berichteten). Grötz war hälftiger Eigentümer des Hauses in der heutigen Hauptstraße 21, wo er laut Volkszählung von 1848 mit Ehefrau und drei Kindern wohnte. Sein Vater Benedikt (1788-1857), der am Markt ein ganzes Haus besaß, versteuerte 1839 ein Kapital von 27.125 Gulden und rangierte damit in ähnlichen Vermögensverhältnissen wie die führenden Murgschiffer Kast und Katz. Wilhelm Grötz war den modernen Bestrebungen nach mehr politischer Teilhabe durchaus aufgeschlossen, wie sein Eintritt in die Gernsbacher Lesegesellschaft 1847 zeigt. Er war aber auch ein typisches Beispiel für die (meist begüterten) Bürger, die ein Vorgehen gegen die etablierte Staatsgewalt und damit gegen Recht und Ordnung strikt ablehnten. Mit Robert Blum konnte er sich nicht identifizieren, da dieser beim Kampf um Wien bewaffneten Widerstand gegen die kaiserliche Regierung geleistet hatte.

 Diejenigen Offiziere und Unteroffiziere, die, ähnlich wie Robert Blum, in der österreichischen Regierung ein Unrechtsregime erblickten, traten nach der Blum-Feier aus der Bürgerwehr aus, mit dem Effekt, dass sich die konservativen Kräfte umso fester um Wilhelm Grötz zusammenschlossen. Immerhin waren das nach einem Bericht des Amtmanns Louis Dill vom 7. Februar 1849 noch 150 Mann, also ungefähr die Hälfte der gesamten Bürgerwehr. Der Amtmann sah in dem Zerfall in zwei verfeindete Lager sogar einen „Gewinn für die gute Sache“, da „jede Neutralität bisher nur zum Übel“ ausgeschlagen sei, also nun keine Kompromisse mehr nötig seien. Es kam zu weiteren Auseinandersetzungen um die Bürgerwehr und ihren Kommandanten.

 Bürgermeister Carl Drissler hatte bereits vor der Blum-Feier von den Bürgerwehr-Männern verlangt, ihre Gewehre zu bezahlen oder zurückzugeben. Dabei wollte er wohl in erster Linie die Kostenfrage klären, da die Gewehre anfänglich von der Gemeindekasse bezahlt worden waren, laut Bürgerwehr-Gesetz vom 1. April 1848 aber grundsätzlich von den einzelnen Wehrmännern bezahlt werden mussten. Die Kosten durften nur von der Kasse der Bürgerwehr oder der Gemeindekasse übernommen werden, wenn ein Bürgerwehrmann zu arm war, seine Waffe selbst zu bezahlen. Als Drissler dieses Verlangen nach der Blum-Feier wiederholte, witterte Amtmann Dill, selbst Mitglied der Bürgerwehr, sofort ein Manöver zur Entwaffnung des konservativen Teils der Bürgerwehr: „Man wollte dadurch, weil voraussichtlich für die meisten eine Bezahlung in dieser Zeit der Noth nicht möglich war, der Bürgerwehr auf geschickte Weise die Gewehre aus der Hand spielen“, wie Dill an das Innenministerium schrieb. „Wir würden“, so prophezeite er düster, „unbezweifelt einer kleinen terroristischen Parthei verfallen, würde eine Waffenauslieferung stattfinden“. Kommandant Grötz pflichtete dieser Einschätzung bei:  „Das hiesige Bürgermeisteramt geht damit um, die hiesige Bürgerwehr im Sinne der ´Rothen` zu entwaffnen“. Die Konservativen, denen die bestehende Ordnung heilig war, betrachteten die Befürworter der Republik also nun als eine rote Terrororganisation!

 Der Gemeinderat, in dem die demokratischen Mitglieder zusammen mit dem Bürgermeister meist die Mehrheit hatten, beschwerte sich daraufhin beim Innenministerium in Karlsruhe über die „Willkür“ und „unbefugte Einmischung“ von Seiten Dills. Die konservative Rumpf-Bürgerwehr beschloss am 8. Mai 1849, kurz vor Ausbruch der Revolution, die in Frankfurt erarbeitete Reichsverfassung für ein geeintes Deutschland „gegen jeden verfassungsverletzenden Angriff zu vertheidigen“. Dieses Ziel verfolgten letztlich auch die Republikaner. Dennoch gelang keine Einigung. Die Mehrheit des Gemeinderats strebte eine Neuorganisation der Bürgerwehr unter einem anderen Kommandanten an, der konservative Teil der Bürgerwehr hielt an Grötz fest und forderte ihn auf, „den einseitigen Beschlüssen des Parthei ergreifenden Gemeinderathes keine Folge zu leisten“. Die Differenzen waren unüberbrückbar, selbst als es um die Rettung der Reichsverfassung ging. Insofern spiegelte Gernsbach im Kleinen wider, was auf Reichsebene zum Scheitern der Bewegung von 1848/49 beitrug. In den im Juni 1849 folgenden Kämpfen an der Murg spielte die Bürgerwehr keine Rolle mehr.

 

Vorbereitung der Jugend für den Kampf. Der Gernsbacher Turnverein.

Am 27. Dezember 1848 wurden die „Grundrechte des deutschen Volkes“ von der Frankfurter Nationalversammlung in Kraft gesetzt. Die in Gernsbach erscheinende Zeitung „Wächter an der Murg“ kommentierte diese Sternstunde der Demokratie wie folgt: „Die Grundrechte, welche das Gesamtvolk durch seine Vertreter festgestellt hat, sind die Magna Charta Deutschlands“. Würden die Fürsten sich an ihre Zusagen vom März 1848 halten und sie in ihren Staaten als Gesetz einführen?

Großherzog Leopold von Baden erkannte die Grundrechte an und ließ sie am 18. Januar 1849 im Regierungs-Blatt als Gesetz veröffentlichen. Österreich und Preußen, die beiden größten Mächte im deutschen Bund, sowie Bayern und Hannover lehnten die Grundrechte dagegen ab. Damit war die Bildung eines einheitlichen deutschen Staates mit einer die Monarchie einschränkenden Verfassung in weite Ferne gerückt. Die Liberalen wollten die Hoffnung nicht aufgeben, dass doch noch eine Einigung mit den Fürsten zustande kommen würde, während die Republikaner verstärkt den Widerstand organisierten. In Baden kam es durch das Grundrecht der Versammlungs- und Vereinsfreiheit Anfang 1849 zu einer Welle von Neugründungen republikanisch-demokratischer Volksvereine. Auch in Gernsbach wurde im Januar 1849 ein demokratischer Verein gegründet, allerdings kein Volksverein, sondern ein Turnverein. Zweck der von „Turnvater“ Ludwig Friedrich Jahn (1778-1852) seit 1811 propagierten Turnbewegung war nicht nur die Förderung der Gesundheit, sondern auch die Erhöhung der Wehrtauglichkeit (zu dieser Zeit für den Kampf gegen die napoleonische Herrschaft).

Dass der Gernsbacher Turnverein ähnlich wie die Volksvereine demokratisch-republikanisch orientiert war, machte der Gernsbacher Amtmann Louis Dill klar, als er ihn abschätzig als „Brentano-Verein“ titulierte. Der 1813 in Mannheim geborene Lorenz Brentano (Jurist und Paulskirchenabgeordneter) war gerade zum Vorsitzenden des provisorischen Landessausschusses der badischen Volksvereine gewählt worden. Zum Vorsitzenden des Gernsbacher Turnvereins wurde der Murgschiffer Casimir Griesbach gewählt. Innerhalb kurzer Zeit traten bereits etwa 80 Bürger bei, also rund 21 Prozent der 374 wahlberechtigten Bürger. Die Mitgliederliste umfasste in erster Linie Handwerker, gefolgt von Kaufleuten und Gastwirten. Öffentliche Bedienstete wie Ratsschreiber Raphael Weil und Polizeiwachtmeister Wilhelm Rothengatter waren dagegen Ausnahmen. Man findet auch Söhne von konservativ gesinnten Vätern im Turnverein, zum Beispiel Friedrich Kaufmann, Sohn des jüdischen Händlers Simon Kaufmann, oder Casimir Kast, Sohn des gleichnamigen Murgschiffers.

Der heutige Turnverein Gernsbach 1849 e. V. betrachtet den 30. Januar 1849 als offizielles Gründungsdatum, da die Satzung dieses Datum trägt. Bereits am 18. Januar wurde aber schon ein Turnerball im „Badischen Hof“ in Gernsbach gefeiert, worüber der „Wächter“ in höchsten Tönen berichtete. Es gab Musik und „das Auge ergötzende Turnübungen“, aus Baden-Baden begrüßte man die badischen Turner. Ratsschreiber Weil hielt eine Rede, in der er den Zweck des Vereins dahingehend definierte, dass „die deutsche Jugend sich stähle für den unausbleiblich bevorstehenden Kampf“. Weil rechnete also damit, dass ein bewaffneter Kampf nötig sein würde, um die deutsche Einigung durchzusetzen. Zahlreiche Toasts wurden ausgebracht mit dem Gruß „Gut Heil“, der bereits aus dem Mittelalter bekannt war und sich seit 1846 in den Turnvereinen durchgesetzt hatte. Die Satzung des Vereins enthielt einen Passus dahingehend, dass „jedes Mitglied, welches sich erwiesenermaßen einer Ausbreitung der inneren Angelegenheiten schuldig macht, aus dem Verein ausgeschlossen wird“. Neben dem Turnen waren auch politischer Austausch und Bildung wichtig. Der „Wächter“ vom 28. Februar kündigt „Vorträge aus dem Gebiete der Geschichte, Geographie, Naturkunde, Politik, insbesondere Tagespolitik“ an und für die Jüngeren zwischen 16 und 20 Jahren „auf geäußerten Wunsch“ Kurse in Deutsch und Französisch.

Nicht in den Turnverein aufgenommen wurden auf Betreiben von Ratsschreiber Raphael Weil die Mitglieder des Gernsbacher Arbeitervereins. Der hatte sich Anfang 1849 gebildet und bestand vorwiegend aus auswärtigen Handwerksgesellen und Hilfskräften. Für den Fall ihrer Aufnahme hatten bereits mehrere Turner ihren Austritt angekündigt. Weil fürchtete um die Anziehungskraft des Turnvereins. Dessen Mitglieder waren eben nicht nur Demokraten, sondern auch etablierte Bürger, die sich gegen eine vermeintlich radikale Unterschicht abgrenzen wollten. Der Grundsatz der Gleichheit galt eben nicht für alle. Weil nahm aus taktischen Gründen Rücksicht auf die Vorurteile seiner Vereinskollegen. Was den Arbeitern allerdings zugestanden wurde, waren Vergünstigungen wie die kostenlose Benutzung des Turnplatzes oder der freie Eintritt zu Turnerbällen.

 

Angst vor der “Pöbelherrschaft”. Der Vaterländische Verein verteidigt das alte Regime.

Im Januar 1849 hatten sich die Gernsbacher Republikaner zum Turnverein zusammengeschlossen. Dagegen bildeten die Konservativen, darunter auch die großherzoglichen Beamten, im Februar 1849 den „Vaterländischen Verein“, der das bestehende Regime verteidigte, da man auf diese Weise die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung am ehesten gewahrt glaubte.

Am 14. Februar 1849 inserierte Heinrich Heidinger, der Wirt des Gasthauses „Krone“ an der Hofstätte in Gernsbach in dem mittlerweile zweimal in der Woche erscheinenden Blatt „Wächter an der Murg“: „Bei Kronenwirth Heidinger ist ganz vortreffliches Turnerbier aus dem besten Aristokraten-Keller zu haben; es braucht sich also auch kein Mitglied des neuerrichteten Vaterländischen Vereins zu schämen, dieses Bier zu trinken.“ Der republikanisch gesinnte Kronenwirt unterstellt seinen Gästen aus dem konservativen Lager hier nicht ohne Ironie, sich gegenüber den „Normalbürgern“  der Mittel- und Unterschichten als „etwas Besseres“ vorzukommen. Tatsächlich wurde in konservativen und gemäßigt-liberalen Kreisen die Republik oftmals mit „Pöbelherrschaft“ gleichgesetzt. Das Trauma der Französischen Revolution und ihrer Terrorherrschaft saß eben noch sehr tief. Vielen Bildungsbürgern missfiel außerdem die lautstarke politische Agitation der Republikaner, die sich bemühten, mit Hilfe von Zeitungen, Vereinen und Volksversammlungen eine möglichst breite Massenbasis aufzubauen, da sie in der Frankfurter Nationalversammlung in der Minderheit waren.

In Gernsbach machten die regimetreuen, also „aristokratisch“ gesinnten Konservativen im „Vaterländischen Verein“ Front gegen die hauptsächlich aus kleinbürgerlichen Schichten stammenden Republikanhänger. Der „Vaterländische Verein“ war ein Ableger des gleichnamigen Vereins in Rastatt. Gemeinsam gaben die beiden Vereine seit Anfang April 1849 ein zweimal die Woche erscheinendes Blatt heraus, den „Murgboten“. Vorsitzender in Rastatt war Professor Franz Kuhn, Lehrer am Lyzeum Rastatt (seit 1908 Ludwig-Wilhelm-Gymnasium). Nach einem zeitgenössischen Bericht von Carl Borromäus Alois Fickler (Historiker und ebenfalls Lehrer am Lyzeum Rastatt) gehörten dem Verein in Rastatt überwiegend konservative Bürger, Offiziere, Beamte und Staatdiener an. In Gernsbach verhielt es sich ähnlich. Amtmann Louis Dill berichtete am 12. Februar 1849 an das Innenministerium nach Karlsruhe, am 10. Februar habe sich unter Beteiligung von „vielen wackren Bürgern dahier sowie sämtlichen hiesigen Staatsdienern und übrigen Bediensteten“ ein „Gegenverein“ (gemeint war der „Vaterländische Verein“) gebildet.  Zum Vorsitzenden wurde Bürgerwehrkommandant und Murgschiffer Wilhelm Grötz gewählt.

Eine der ersten Aktionen des „Vaterländischen Vereins“ war die Absendung einer Petition (Bitte) an die großherzogliche Regierung, den badischen Landtag nicht aufzulösen. Dies war eine Reaktion auf die kurz vorher erfolgte Petition der Gernsbacher Demokraten um Bürgermeister Carl Drissler, die das Gegenteil, nämlich eine Auflösung des Landtags, beantragt hatten. Der Streit hing mit den neuen „Grundrechten des deutschen Volkes“ zusammen. Der von der Frankfurter Nationalversammlung am 27. Dezember 1848 als Reichsgesetz verabschiedete und von Großherzog Leopold im Januar 1849 für Baden als Gesetz anerkannte Grundrechtskatalog bestimmte in Paragraph 137: „Vor dem Gesetz gilt kein Unterschied der Stände. Der Adel als Stand ist aufgehoben. Alle Standesvorrechte sind abgeschafft. Die Deutschen sind vor dem Gesetze gleich.“

Das Gesetz war zukunftsweisend, Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz nahmen es zum Vorbild. Die Verwirklichung hätte aber 1849 eine tiefgreifende Änderung des Regierungssystems bedeutet. Die beiden Kammern des badischen Landtags entsprachen nicht dem Grundsatz der Gleichheit. In der ersten Kammer saßen die Prinzen des großherzoglichen Hauses und andere Vertreter des Adels. Die zweite Kammer bestand aus gewählten Abgeordneten, aber das Wahlrecht war nicht gleich. Nach dem neuen Gleichheitsgrundsatz hätte man den Landtag neu wählen lassen müssen. Das schien den Konservativen im Land zu revolutionär! Bei einer Neuwahl des Landtags wäre vielleicht auch ein Wahlsieg der Republikaner zu befürchten gewesen! So blieb alles beim Alten – vorerst. Allerdings hatten laut „Wächter an der Murg“ rund 160 Bürger (also etwa 40 Prozent der wahlberechtigten Männer in Gernsbach) die Bitte um Auflösung des alten Landtags unterzeichnet und damit eine demokratische Umgestaltung befürwortet.

 

Konservative vorn bei Gemeinderatswahlen. Bestechung oder Angst vor Experimenten?

Im Januar 1849 hatten sich rund 21 Prozent der Gernsbacher Bürger im republikanischen Turnverein organisiert und etwa 40 Prozent für die von der Frankfurter Nationalversammlung eingeführten Grundrechte ausgesprochen. Die Partei der Republikaner wähnte sich im Aufwind. Umso ernüchternder fielen die Wahlen zum Gemeinderat am 12. Januar 1849 aus.

Von den acht Gemeinderäten war bei dreien, darunter Gustav Wallraff, die Amtszeit von sechs Jahren abgelaufen. Sie standen für eine Wiederwahl für weitere sechs Jahre zur Verfügung. Zwei Gemeinderäte schieden freiwillig aus, darunter Friedrich August Schickardt. Für sie mussten Ersatzmänner gewählt werden. Bei drei Gemeinderäten (Wilhelm Seyfarth, Jakob Rothengatter, Alois Haas) war eine Wahl nicht nötig, da ihre Amtszeit noch nicht abgelaufen war. Mit Seyfarth, Rothengatter, Haas, Wallraff und Schickardt war die Mehrheit des Gemeinderates vor der Wahl republikfreundlich gewesen. Das änderte sich nun. Gustav Wallraff wurde nicht wiedergewählt. Stattdessen kam der Konservative Wilhelm Grötz in den Gemeinderat. Seine Wahl (mit dem drittbesten Ergebnis) zeigte, dass sich die Wähler im Zweifelsfall doch eher für einen konservativen Kandidaten entschieden, bei dem keine politischen Experimente zu erwarten waren.

Kurz nach der Wahl erschien ein Artikel im „Wächter an der Murg“, der „Wahl-Bestechungen“ unterstellte. „Man bewirthete in mehreren Wirtshäusern längere Zeit vor der Wahl und unmittelbar darauf die willfährigen Wähler“, wie der anonyme Verfasser behauptete. Man habe, so heißt es weiter, bei etlichen auch den „Hang zur Trunkenheit“ ausgenutzt. Die Beschuldigung spielte möglicherweise auf die Besorgnis der Obrigkeit an, die Wirtschaftskraft der Stadt könne durch die Wirtshausdichte beeinträchtigt werden. Immerhin gab es allein an der Hofstätte schon sechs Wirte!

Der Initiator der angeblichen Wahlbestechung wird in dem Zeitungsartikel nicht genannt, erwähnt wird nur, dass es jemand sei, „dem eine wichtige öffentliche Stelle anvertraut ist“. War Amtmann Louis Dill gemeint? Wilhelm Grötz und einige Gleichgesinnte gingen davon aus und ließen eine Gegendarstellung veröffentlichen, in der sie den Artikel über die angeblichen „Wahl-Bestechungen“ als „Schandartikel“ anprangerten.

Die Gegendarstellung im „Wächter“ beschreibt die Reaktion der Bevölkerung auf den „Schandartikel“ genauer. Es habe, so die Zeitung, einen Auflauf gegeben. Etwa 150 Bürger hätten sich, so heißt es, versammelt, um ihrer Empörung über den Wahlbestechungs-Artikel Luft zu machen. Bürgermeister Drissler, der „von der immer mehr aufgeregten Versammlung Schlimmes fürchtete“, habe den Gemeinderat, den Bürgerausschuss, Teile der Bürgerwehr-Führung und Amtmann Dill ins Rathaus geladen, wo der republikanisch gesinnte Murgschiffer Casimir Griesbach schließlich zugab, den umstrittenen Artikel verfasst zu haben. Er musste öffentlich widerrufen, tat dies aber auf zweideutige Weise, indem er erklärte, er sei gern bereit, „diesen Artikel hiermit zu widerrufen“ in dem Fall, dass er „möglicherweise falsch berichtet“ sei.

Dem Amtmann Dill war das nicht genug. Er wandte sich an die Kreisregierung und ans Innenministerium mit dem Ansinnen, gerichtlich gegen Griesbach vorzugehen, was die Behörden jedoch ablehnten. Erstens war Dill in dem „Schandartikel“ nicht namentlich erwähnt, und zweitens war die großherzogliche Regierung nicht daran interessiert, einen möglichen Korruptionsfall vor einem der neu eingeführten Schwurgerichte (also öffentlich und vor unabhängigen Richtern) verhandeln zu lassen. Wählerbeeinflussung durch Behörden war bis vor kurzem schließlich nichts Ungewöhnliches gewesen.

Die nächste Gemeinderatswahl am 15. Juni 1849, die bereits nach Ausbruch der Revolution am 13. Mai 1849 stattfand, ging wieder zugunsten der Konservativen aus. Bei einer Wahlbeteiligung von 65 Prozent (244 Wähler bei 375 Wahlberechtigten) erzielte Wilhelm Grötz das beste Ergebnis (236 von 244 möglichen Stimmen). Die Republik-Anhänger Jakob Rothengatter, Bockwirt Seyfarth und Ölmüller Alois Haas erhielten deutlich weniger Stimmen. Der stadtbekannte Republikaner Gustav Wallraff schaffte es wieder nicht, in den Gemeinderat gewählt zu werden. Dagegen war Johann Carl Drissler kurz vorher am 8. Juni 1849 mit großer Mehrheit zum dritten Mal seit 1838 zum Bürgermeister gewählt worden (mit 260 von 266 möglichen Stimmen). Auch die Konservativen hielten ihn offenbar für den besten Mann in diesem Amt – trotz seiner demokratischen und republikfreundlichen Gesinnung. Vielleicht vertrauten sie auf den mehrheitlich konservativen Gemeinderat als ausgleichendes Element.

 

Preußischer König lehnt die Kaiserkrone ab. Ist die deutsche Einheit noch zu retten?

Seit dem Ende des Jahres 1848 standen sich die politischen Lager in Gernsbach zunehmend unversöhnlich gegenüber. Zu den nach damaliger Vorstellung „entschiedenen Demokraten“ gehörten diejenigen, die ein geeinigtes Deutschland als parlamentarische Republik wollten. Die Konservativen und gemäßigt Liberalen bevorzugten dagegen eher ein Deutschland unter monarchischer Leitung mit einer begrenzten Mitsprache des Volkes. Daneben gab es noch die Vertreter der Reaktion, die jegliche Mitbestimmung des Volkes ablehnten. Bis März 1849 änderte sich an dieser Situation kaum etwas.

Am 21. März 1849 berichtete die republikfreundlich gesinnte, in Gernsbach erscheinende Zeitung „Wächter an der Murg“ über die Wahl des Verwaltungsrates der Murgschifferschaft: „Das conservative Element ist total unterlegen, gewählt wurden die Herren Kast, Schickardt, Griesbach, Klehe und Bucherer, lauter Männer des Fortschritts, zum Theil von der entschiedensten Gesinnung.“ Gleich im Anschluss an diese Meldung wird ein besonders reaktionäres Mitglied der Gernsbacher Honoratioren erwähnt, nämlich der evangelische Diakon Dr. Friedrich Kayser (1817-1857). Seit 1844 zweiter Geistlicher neben dem evangelischen Stadtpfarrer, war er auch als Lehrer für die Lateinschule zuständig. Großherzog Leopold hatte am 16. März 1849 gemäß der von der Nationalversammlung beschlossenen Grundrechte die Todesstrafe in Baden abgeschafft, was Kayser als eine Zerstörung der „göttlichen Grundlagen des Staatslebens“ öffentlich kritisierte. Der Obrigkeit das „Richtschwert aus der Hand zu nehmen“, verstoße, so Kayser, gegen die Bibel. Der Redakteur des „Wächters“ urteilte über den Diakon, er sei „ein sehr geistreicher, kenntnißreicher und sehr frommer Mann“, aber seine Haltung beweise, „daß man bei aller Frömmigkeit auch grausam sein kann.“

Ende März änderte sich die politische Situation grundlegend. Am 28. März 1849 wurde die von der Frankfurter Nationalversammlung erarbeitete und sehnsüchtig erwartete Reichsverfassung verkündet und trat damit, zumindest nach dem Selbstverständnis der Abgeordneten, unmittelbar in Kraft. Oberhaupt des geeinten deutschen Reiches sollte ein erblicher, aber durch ein Parlament in seiner Macht eingeschränkter „Kaiser der Deutschen“ sein. Republikaner und Liberale hatten sich in der Paulskirche auf eine Balance zwischen monarchischem Prinzip und Volkssouveränität geeinigt. „Kaiser der Deutschen“ sollte der König des größten deutschen Einzelstaates Preußen werden. Die Aufgabe der verfassunggebenden Nationalversammlung war damit erfüllt – zumindest theoretisch. Die praktische Umsetzung drohte jedoch zu scheitern. Zwar wurde die Reichsverfassung am 14. April von 28 kleineren und mittleren Staaten (darunter Baden) anerkannt. Preußen, Sachsen, Bayern und Hannover jedoch lehnten sie ab. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. schlug die ihm von der Nationalversammlung angebotene Kaiserkrone am 28. April aus. Er fühlte sich nach wie vor als Herrscher „von Gottes Gnaden“. Eine vom Parlament verliehene Krone war für ihn nicht akzeptabel. Viele fragten sich, ob die Einheit Deutschlands noch zu retten sei.

Der Gernsbacher „Wächter“ sah eine neue Revolution voraus, aber diesmal unter Beteiligung „auch der gemäßigt liberalen Elemente, welche das Fürstenthum gestützt hatten“. Diese Prognose erwies sich als richtig. Am 8. Mai 1849 erklärte der konservativ gesinnte Teil der Gernsbacher Bürgerwehr, der sich noch im Dezember 1848 geweigert hatte, an der Gedenkfeier für den in Wien getöteten Republikaner Robert Blum teilzunehmen (wir berichteten), in einem Flugblatt seine Bereitschaft, „die Reichsverfassung gegen jeden verfassungsverletzenden Angriff zu vertheidigen“. In diesem Ziel schienen die konservativen Bürgerwehrmänner nun trotz aller politischen Gegensätze mit ihren republikanisch gesinnten Mitbürgern einig. In den folgenden Wochen kam es zur sogenannten „Reichsverfassungskampagne“ mit den Schwerpunkten in Sachsen, der bayerischen Pfalz und in Baden. Das Volk verlangte die Durchsetzung der in Frankfurt beschlossenen Reichsverfassung.

Dabei spielten in Baden besonders die Volksvereine eine herausragende Rolle. Seit dem Beschluss der Grundrechte durch die Nationalversammlung Ende 1848 hatten sich aufgrund der Vereinsfreiheit zahlreiche republikanisch gesinnte Volksvereine gebildet. Auch in Gernsbach war Anfang Mai 1849 ein solcher Verein gegründet worden, dem auf Anhieb 100 Männer beitraten. Am 6. Mai fand eine Versammlung von Volks- und Turnverein im großen Saal des Badischen Hofs statt, um das weitere Vorgehen zu beraten. Die Stimmung in Gernsbach näherte sich dem Siedepunkt – so wie in ganz Baden.

 

Der Ausbruch der Revolution 1849 in Gernsbach

 „Mitbürger! Die bedrohliche Lage des Vaterlandes macht es nothwendig, daß das Volk sich bereit hält, sein Recht und seine Freiheit mit den Waffen zu schirmen!“ Dieser vom 1. Mai 1849 datierende Aufruf der badischen Volksvereine war am 5. Mai in der in Gernsbach erscheinenden Zeitung „Wächter an der Murg“ nachzulesen. Mit „Verfassung“ war die Reichsverfassung gemeint, die von der Nationalversammlung für ganz Deutschland im März 1849 verkündet, aber im April von den Königen von Preußen, Bayern, Sachsen und Hannover abgelehnt worden war.

Daraufhin brach Anfang Mai 1849 eine Welle von Aufständen aus, die als „Reichsverfassungskampagne“ bezeichnet wird. In mehreren deutschen Einzelstaaten begehrte die Bevölkerung auf, um besonders die in der Reichsverfassung verankerten und mittlerweile als unantastbar betrachteten Grundrechte durchzusetzen, notfalls auch mit Gewalt. Die Bewegung begann in der zu Bayern gehörenden linksrheinischen Pfalz. Auf einer Volksversammlung in Kaiserslautern beschloss man Volksbewaffnung und Steuerboykott. In Baden übernahmen die Volksvereine die Organisation des Widerstands. Der badische Finanzbeamte Amand Goegg (1820-1897) aus Renchen hatte seit Ende 1848 ein landesweites Volksvereinsnetz aufgebaut, das im Mai 1849 etwa 500 Vereine mit über 40.000 Mitgliedern umfasste (etwa 16 Prozent der erwachsenen männlichen Bevölkerung). In zahlreichen Versammlungen, Zeitungsartikeln und Flugblättern wurde die Bevölkerung über ihre demokratischen Rechte aufgeklärt.

Nachdem der Volksaufstand in Sachsen zwischen dem 5. und 9. Mai durch preußische Truppen blutig niedergeschlagen worden war, lud sich die Stimmung auch in Baden immer mehr auf. In Gernsbach hatte das Blatt „Wächter an der Murg“ laufend über die Vorgänge in Dresden berichtet. Zwar hatte Großherzog Leopold die Reichsverfassung mit 27 anderen kleineren Staaten anerkannt, aber ob sich die konservative badische Regierung gegen den preußischen Druck zur Abschaffung der Reichsverfassung würde behaupten können oder wollen, schien fraglich. Am 12. Mai hatte der Vorstand der Volksvereine daher zu einem Kongress nach Offenburg geladen. Die Delegierten der Volksvereine wollten Beschlüsse zur Bewahrung der Reichsverfassung und zur demokratischen Neuordnung in Baden fassen und sie am nächsten Tag, dem 13. Mai, von einer großen Volksversammlung bestätigen lassen.

Als Delegierter des Volksvereinkongresses am 12. Mai fuhr der Gernsbacher Ratsschreiber Raphael Weil nach Offenburg. An der großen Volksversammlung am nächsten Tag nahmen etliche Gernsbacher teil, unter anderem Gustav Wallraff, der Wirt des Badischen Hofes, der Geschäftsmann Veit Kaufmann (beide Mitglieder des demokratischen Turnvereins) und das Musikkorps des Turnvereins, das bei jedem Halt des Zuges und auf der Rednertribüne in Offenburg in den Pausen aufspielte. Allen Daheimgebliebenen war klar, dass es in Offenburg zu weitreichenden Beschlüssen kommen würde. Das Flugblatt mit den Forderungen der Offenburger Versammlung, das Gustav Wallraff bei seiner Rückkehr am Abend des 13. Mai mitbrachte, riss man ihm vermutlich aus den Händen. Es wurde unter anderem die Entlassung der Regierung, eine demokratische Neubildung des Staates und Volksbewaffnung verlangt. Auch soziale Forderungen wurden erhoben wie zum Beispiel eine progressive Einkommenssteuer und ein Pensionsfonds zur Versorgung von Arbeitsunfähigen. Die erste Forderung aber war: „Die Regierung muß die Reichsverfassung unbedingt anerkennen und mit der ganzen bewaffneten Macht unterstützten.“

Die „bewaffnete Macht“, das badische Heer, stand diesmal auf Seiten des Volkes. Zwischen dem 9. und dem 12. Mai schlossen sich zunächst die Soldaten der größten badischen Garnison Rastatt der Volksbewegung an, was im Wesentlichen durch die Fehlentscheidungen der Vorgesetzten einschließlich des Kriegsministers verursacht wurde. Am 13. Mai meuterten auch Truppen in Karlsruhe. Großherzog Leopold floh in der Nacht mit seiner Familie über den Rhein und begab sich schließlich in die preußische Festung Ehrenbreitstein bei Koblenz. Da auch die Minister flohen, blieb das Land ohne Regierung zurück. Um das Machtvakuum zu füllen, bat der Karlsruher Gemeinderat den Landesausschuss der Volksvereine, in die Hauptstadt zu kommen und die Regierung zu übernehmen. Als Vertreter ernannte diese neue Regierung sogenannte Zivilkommissare, die in die einzelnen Bezirksämter zur Durchführung des neuen Regierungskurses geschickt wurden. Als Zivilkommissar für das Murgtal kehrte Ratsschreiber Raphael Weil am 14. Mai nach Gernsbach zurück. Damit hatte die Revolution auch hier Einzug gehalten.

 

Die Revolution will Ordnung und Sicherheit auch in Gernsbach

 „Montag den 14. Mai erschien in Gernsbach der Commissair der am 13. Mai in Offenburg abgehaltenen Landesversammlung, Bürger Weil, auf dem Rathause und erklärte ´Alle öffentlichen Beamten des Amtes Gernsbach sind ihrer Stelle enthoben´, und setzte als provisorische Centralgewalt für das Murgthal den Gemeinderath daselbst und den Vorstand des Volksvereins, Bürger Kürzel ein.“ So lautet ein Bericht der neu eingerichteten „Centralgewalt für das Murgtal“ vom 18. Mai 1849 an den Landesausschuss der Volksvereine in Karlsruhe.

Der Landesausschuss hatte am 14. Mai 1849 nach der Flucht des Großherzogs und seiner Minister in Karlsruhe die Macht übernommen und eine vorläufige Regierung mit dem populären Anwalt Lorenz Brentano an der Spitze gebildet, um die Reichsverfassung zu sichern und eine geordnete Regierung des Landes aufrechtzuerhalten. Damit war die Revolution in Baden ausgebrochen. Um ihre Anordnungen im ganzen Land umzusetzen, schickte die revolutionäre Regierung sogenannte „Civilcommissäre“ in die einzelnen Amtsbezirke. Einer von ihnen war Raphael Weil, seit 1847 Gernsbacher Ratsschreiber, der nun für die Organisation der neuen Macht im Murgtal zuständig war, wobei er von einem sogenannten Zentralausschuss unterstützt wurde, der aus Bürgermeister Drissler, den Gernsbacher Gemeinderäten und dem Mediziner Franz Kürzel bestand.

Weil erließ seine Anordnungen „im Namen des souveränen Volkes“. Diese radikal-demokratische Haltung wurde allerdings von den meisten Mitgliedern der neuen Regierung in Karlsruhe nicht unterstützt. Besonders Brentano hätte lieber eine liberale Reform des Staates mit einer zwischen Volk und Großherzog geteilten Souveränität gesehen und wollte dem geflohenen Herrscher die Rückkehr nicht völlig verbauen. Auch aus diesem Grund beließ man die großherzoglichen Beamten auf ihren Posten, sofern sie den Eid auf die Reichsverfassung ablegten. Am 20. Mai schworen auch die Gernsbacher Beamten vor Bürgermeister Drissler und Zivilkommissar Weil, „die Reichsverfassung aufrecht zu erhalten und sie gewissenhaft zu vollziehen“, allerdings unter dem Vorbehalt, dass der neue Eid nicht gegen ihren ursprünglichen Beamteneid auf die großherzogliche Verfassung und damit auch den Großherzog verstieß. Diese Klausel machte den neuen Eid auf die Reichsverfassung eigentlich wertlos. Der einzige in Gernsbach, der den Eid dennoch Gewissensgründen verweigerte, war der evangelische Diakon Friedrich Kayser. Dennoch beließ man ihn im Amt. Man wollte keinen Umsturz um jeden Preis. Radikale Republikaner wie Weil waren in der Minderheit. Dem Gernsbacher Zentralausschuss, also dem Gemeinderat, war nach eigener Aussage wichtig, dass „die Bewohner des Murgthales in gesetzlicher Ordnung sich befinden und die Sicherheit der Person und des Eigenthums geschützt ist“.

Eine radikale Maßnahme Weils, die von den Gernsbachern unterstützt wurde, war dagegen die sofortige Entlassung der Beamten. Obwohl die Regierung in Karlsruhe diese Maßnahme zunächst wieder rückgängig machte, musste sie den vehementen Forderungen der Gernsbacher schließlich doch nachgeben und drei besonders unbeliebte Staatsdiener, darunter den Amtsrichter Ludwig Dill, wenn auch nur vorläufig, entlassen. Revolutionär mutet auch die Meldung des Gernsbacher Zentralausschusses vom 18. Mai nach Karlsruhe an: „Die öffentlichen Gebäude der Stadt Gernsbach wurden unter den Schutz des Volkes gestellt. Das Schloß Eberstein mit Besatzung versehen.“ Schloss Eberstein befand sich im Privateigentum des Großherzogs. Seine Besetzung und mehrfache Durchsuchung wirkte sich bei den Hochverrats-Prozessen nach Niederschlagung der Revolution als besonders radikaler Akt für die Teilnehmer erschwerend aus.

Am 23. Mai ernannte Zivilkommissar Weil die Mitglieder eines Sicherheits- und eines Wehrausschusses. Zum Sicherheitsausschuss gehörten Bürgermeister Drissler, Murgschiffer und Gemeinderat Wilhelm Grötz, Bockwirt und Gemeinderat Wilhelm Seyfarth, Badischer Hofwirt Gustav Wallraff und Murgschiffer Friedrich August Schickardt, zum Wehrausschuss Messerschmied und Gemeinderat Jakob Rothengatter, Ölmüller und Gemeinderat Alois Haas, praktischer Arzt Franz Kürzel, Büchsenmacher (Hersteller von Schusswaffen) Gabriel Möst und Apotheker Engelhard Sonntag. Der Sicherheitsausschuss, der sich bereits vorher gebildet hatte, berichtete bereits am 18. Mai: „Die Gemeinden des Amtes Gernsbach wurden aufgefordert alle waffenfähige Mannschaft von 18-30 Jahren, soweit wie möglich zu bewaffnen, mit Geld zu versehen und an die (Bahn)-Stationsplätze Oos und Muggensturm abzusenden.“ Die Mobilmachung zur Sicherung der freiheitlichen Errungenschaften wie Reichsverfassung und Grundrechte hatte begonnen.

 

Barrikade 1

Barrikadenkampf in Berlin, März 1848

Barrikaden Wein 2

Ausgabe der Zeitung „Wächter an der Murg“ vom 22. Oktober 1848 mit der Werbung für „Barrikadenwein und Kartätschenwürste“

Foto: Stadtarchiv Gernsbach

Robert Blum Hinr. II

Hinrichtung des Paulskirchenabgeordneten Robert Blum in Wien, zeitgenössische Darstellung

Foto: Archiv Cornelia Renger-Zorn

 

Gruft Groetz

Grabstätte der Familie Grötz auf dem katholischen Friedhof. Wilhelm Grötz (verzeichnet auf einer Tafel an der nördlichen Außenwand) war ein führendes Mitglied der konservativen Partei in Gernsbach.

Gedenkstein Turnvater Jahn klein

Gedenkstein des Turnvereins Gernsbach zum 100. Geburtstag von “Turnvater” Jahn, 1928, Jahnstraße Gernsbach

Professoren.klein

„Deutsche Professoren entwerfen den Entwurf des Entwurfs für ein Gesetz“. Die Karikatur von 1848 macht sich lustig über die lange Beratung in der Frankfurter Nationalversammlung. Die Ergebnisse waren dann aber so bahnbrechend, dass sie vielen Konservativen, darunter auch denen in Gernsbach, zu revolutionär erschienen. Foto: Archiv Cornelia Renger-Zorn

Altes Rathaus Eing oben.klein

Altes Rathaus, 1722/23 bis 1936 Rathaus der Stadt Gernsbach, 1838 bis 1849 Amtssitz des mehrfach wiedergewählten Bürgermeisters Johann Carl Drissler, Wahl- und Tagungsort des Gemeinderates, Schauplatz turbulenter Szenen 1849

Altes Rathaus 4.klein
Preuss Koenig Verfass

Die Karikatur von 1848 verspottet den preußischen König Friedrich Wilhelm IV., der seine absolute Herrschaft nicht durch eine Verfassung schmälern lassen will und dabei vom Militär unterstützt wird.

Bock 13. Mai klein 2 1849

In dem am 1. Juli 2023 im ehemaligen Gasthaus zum Bock (Hauptstraße 20) aufgeführten Szenenspiel warten die Gernsbacher am Abend des 13. Mai 1849 fieberhaft auf die Rückkehr der Mitbürger, die an der entscheidenden Volksversammlung in Offenburg teilgenommen haben.

Schloss.Eberstein.klein

Die Besetzung und Durchsuchung von Schloss Eberstein im Mai und Juni 1849 erschien als besonders radikaler revolutionärer Akt.

Folge Kampfmoral
Folge Dortu

Gerangel um Pferde und Kompetenzen verschreckt die Bürger.
Das Gernsbacher Bataillon kommt nicht zustande.

Max Dortu, der neue Militärkommandant im Murgtal, hatte die Aufgabe, alle Wehrpflichtigen zwischen 18 und 30 Jahren im Amtsbezirk Gernsbach mobil zu machen und zu einem Volkswehr-Bataillon zusammenzustellen. Etwa 200 Mann waren bereits Ende Mai ausgerückt und standen unter dem Befehl von Carl Drissler (Sohn des Gernsbacher Bürgermeisters) in Heidelberg. Dortu schaffte es bis zum 22. Juni, weitere 650 Männer aufzustellen, die allerdings noch ausgerüstet werden mussten.

Angesichts der vorhandenen dürftigen Bestände rechnete Dortu seinem Vorgesetzten am 22. Juni vor, was zur Ausrüstung dieser 650 Mann noch fehlte, nämlich 600 Gewehre, 550 Patronentaschen, 4000 Pakete Patronen, 550 Blusen, 550 Brotsäcke und 112 Paar Schuhe. Aber auch Geld für die Löhnung und Verpflegung der Truppe fehlte. Dortu schrieb: „Wenn ihr mir also mehr Geld schicken könnt, 3000 Gulden, so nehme ich es Euch nicht übel.“ Die enorme Energie, mit der Gernsbachs neuer Kommandant zu Werke ging, gefiel allerdings nicht allen. Am 20. Juni bat Dortu seinen Vorgesetzten Johann Philipp Becker nachdrücklich um eine schriftliche Vollmacht zum Ankauf von Reit- und Zugpferden, „da ich sonst bei einigen vielleicht auf Schwierigkeiten stoßen möchte“. Pferde waren teuer. Hochwertige Reitpferde kosteten bis zu 500 Gulden. Dortus Beschlagnahmung von Pferden stieß im Gernsbacher Gemeinderat, also gerade bei den wohlhabenderen Bürgern,  auf heftigen Widerstand. So sehr viele den Einsatz für die Verfassung auch befürworteten – wenn es an ihre Geldbeutel ging, hörte der Spaß auf!

Zusätzlich wurden die Murgtäler durch unklare Kompetenzverhältnisse in der badischen Revolutionsarmee verunsichert. Dortu war ins Murgtal geschickt worden von Johann Philipp Becker, dem republikanisch gesinnten Oberbefehlshaber der Volkswehr. Der gemäßigt liberale Regierungschef Lorenz Brentano ersetzte den ihm zu radikalen Becker durch einen gewissen Friedrich Doll. Allerdings wurde die Öffentlichkeit von dieser Änderung nicht informiert. Becker kämpfte seit dem 15. Juni an der Neckarfront. Am 21. Juni befahl Friedrich Doll im Namen des Oberkommandos der Volkswehr sämtlichen Volkswehrmannschaften des ersten Aufgebotes im Mittelrheinkreis, also auch dem Gernsbacher Aufgebot, sofort nach Karlsruhe abzumarschieren. Bürgermeister Drissler legte diesen Befehl, der in der Karlsruher Zeitung veröffentlicht worden war, dem Kommandanten Dortu vor, der sich nun fragen musste, wer sein Vorgesetzter sei: Johann Philipp Becker oder Friedrich Doll?

Dortu, der die von ihm aufgestellten Wehrmänner wegen ihrer mangelnden Ausrüstung noch nicht ausrücken lassen wollte, widersetzte sich Dolls Befehl mit dem Argument, dass er auch von Oberst Franz Sigel, dem Adjutanten von General Ludwig Mieroslawski, bevollmächtigt sei. Mieroslawski war von der revolutionären Regierung im Juni zum Oberbefehlshaber des gesamten Revolutionsheeres ernannt worden. Damit sah sich Dortu, unabhängig von der augenblicklichen Stellung Beckers, durch die höchste militärische Gewalt in Baden legitimiert. Das bewahrte ihn aber nicht vor dem Unmut der Bürgerschaft, die gegen seine hohen Anforderungen opponierte. Am 26. Juni 1849 kam Otto von Corvin, Offizier im Stab des revolutionären Rastatter Festungskommandanten, nach Gernsbach. Zweck dieses Besuches war die Beschaffung von Pferden. Corvin berichtete, er habe am 27. Juni den Bürgermeister kommen und sämtliche Pferde, die es in Gernsbach gab, auf den Marktplatz bringen lassen. Dann sei eine Kommission gebildet worden, „welche die Pferde taxierte, und ich kaufte auf diese Weise sechs bis acht“, fährt der Bericht fort. Corvin traf bei seinem Besuch Max Dortu nicht mehr in Gernsbach an, bemerkte aber, die Gernsbacher Bürger seien sehr aufgebracht gegen Dortu gewesen, und dieser sei von seinem Posten entfernt worden. Nach der Darstellung von Johann Philipp Becker wurde Dortu von Lorenz Brentano entlassen.

Dortus letzter Bericht aus Gernsbach datiert vom 25. Juni. Seine Rolle als Kommandant der Volkswehr im Murgtal hatte sich erübrigt, als am 26. Juni Oberst Ludwig Blenker mit seinen pfälzischen Freischaren in Gernsbach einmarschierte mit dem Auftrag, die Stadt als Schlüsselstellung der Murglinie zu halten. Nach der Einnahme von Karlsruhe am 25. Juni durch die Preußen zogen sich die Revolutionstruppen nach Süden zurück und versuchten, als letzte Front die Murglinie zwischen Steinmauern und Gernsbach gegen die Preußen und Reichstruppen zu halten. Max Dortu befehligte am 26. Juni bei Ötigheim ein Bataillon von 328 Freiburger Volkswehrmännern und kämpfte mit dieser Truppe am 29. Juni bei Muggensturm gegen die Preußen. Die 650 von Dortu aufgebotenen Wehrmänner aus dem Amtsbezirk Gernsbach kamen im Kampf an der Murg als geschlossene Einheit nicht zum Einsatz.

 

Reaktionäre, Deserteure und Gewehre
Eine Waffe aus Gernsbach wirft Fragen auf

Vom 17. bis zum 25. Juni 1849 amtierte der 23jährige, aus Potsdam stammende Max Dortu als Militärbefehlshaber des Amtsbezirks Gernsbach. Seine im Landesarchiv Karlsruhe aufbewahrten Befehle und Berichte werfen ein bezeichnendes Licht auf die im Murgtal herrschende Stimmung. Die monarchistisch gesinnten Beamten und Geistlichen schürten bei der Bevölkerung die Angst vor einer Rückkehr der alten Mächte. Das nach dem 21. Juni 1849 vermehrte Auftauchen von Deserteuren der bei Waghäusel geschlagenen badischen Revolutionsarmee verbreitete Resignation im Murgtal.

Am 20. Juni berichtete Dortu an das Oberkommando des badischen Heeres: „Es befinden sich hier an zehn Hauptreaktionäre, theils Exbeamte von hier theils von andern Orten her flüchtige Exbeamte, theils noch in Pflicht stehende Beamte. Diese Herren halten alltäglich auf dem Schlosse Eberstein geheime Zusammenkünfte , der ebenfalls im Amte belassene Schloßverwalther Vogt bietet die Hand dazu. Da es ihnen nicht an Geld fehlt, so haben sie auch die Mittel in Händen, um reaktionär zu wirken. Sie haben schon zu verschiedenen Malen versucht, das Gerücht zu verbreiten , die jetzige Regierung würde in einigen Tagen gestürzt sein und der Großherzog sehr bald seinen Sommersitz auf Schloss Eberstein nehmen.“

Solche Reden verfehlten ihre Wirkung bei der Bevölkerung nicht. Die neue Regierung in Karlsruhe sah speziell in diesem Fall dringenden Handlungsbedarf. Am 23. Juni erhielt der Gernsbacher Zivilkommissar als höchste zivile Instanz vor Ort den Befehl des Innenministers, alle im Bezirk Gernsbach befindlichen, gegen die bestehende Regierung eingestellten Beamten und Geistliche verhaften und in die Festung Rastatt bringen zu lassen. Zivilkommissar war zu diesem Zeitpunkt Bürgermeister Carl Drissler, und zwar in Vertretung für Raphael Weil, der als Abgeordneter in der frisch gewählten verfassunggebenden Landesversammlung in Karlsruhe tätig war. Angesichts der unsicheren Lage zog es der Bürgermeister vor, den Haftbefehl gegen die großherzoglichen Staatsdiener, die vielleicht bald wieder in Amt und Würden sein würden, lieber nicht sofort auszuführen.

Am 25. Mai rückten die Preußen in Karlsruhe ein. Kurz zuvor hatten die Regierung und die Abgeordneten der verfassunggebenden Landesversammlung, unter ihnen Raphael Weil, die Hauptstadt in Richtung Süden verlassen. Der radikal gesinnte Weil kam am Mittag des 24. Juni nach Gernsbach zurück und übernahm das Amt des Zivilkommissars wieder selbst. Die Verhaftung der Beamten erfolgte kurz danach. Am 25. Juni um halb drei Uhr morgens meldete Max Dortu dem Kommandanten der Festung Rastatt, er habe die betreffenden Reaktionäre verhaftet und den Gernsbacher Polizeiwachtmeister Wilhelm Rothengatter damit beauftragt, sie nach Rastatt zu bringen. Der Einfluss der „Hauptreaktionäre“ war damit ausgeschaltet, aber es blieben genug andere Probleme.

Nach der schwerwiegenden Niederlage am 21. Juni bei Waghäusel zog sich die Revolutionsarmee nach Süden zurück, wobei es zu massiven Auflösungserscheinungen kam. Am 23. Juni berichtete Bürgermeister Drissler, es seien „heute schon über hundert Ausreißer theils Soldaten theils Wehrmänner hier durchgezogen“. Die hohe Zahl der Deserteure wirkte auf die Bevölkerung deprimierend. Die örtlichen Behörden bemühten sich, möglichst viele von ihnen zu verhaften und ihnen die Waffen abzunehmen, die andernorts noch dringend gebraucht wurden. Am 25. Juni befahl Dortu allen Bürgermeistern im Amtsbezirk unter Androhung des Standrechts, in ihren Orten sofort Hausdurchsuchungen zu veranstalten und die dabei gefundenen Waffen noch am selben Tag bei ihm in Gernsbach abzuliefern. Waffen in Privathäusern vermutete Dortu wohl bei Bürgern, die selbst aufgrund ihres Alters nicht mehr wehrpflichtig waren, aber eigene Schuss- oder Blankwaffen besaßen, die sie bis dato noch nicht dem Revolutionsheer zur Verfügung gestellt hatten.

Eine der Waffen, nach denen damals gefahndet wurde, hat sich in einer Gernsbacher Familie über mehrere Generationen bis heute erhalten. Es handelt sich um ein badisches Infanteriegewehr vom Typ M1816/40 mit aufsteckbarem Bajonett, wie es seit 1840 in der badischen Armee benutzt wurde. Die zur Revolution übergelaufenen regulären Linientruppen waren standardmäßig damit ausgerüstet. Aber auch Volkswehrmänner benutzten solche Gewehre. Die in Gernsbach erhaltene Waffe wirft Fragen auf: Entging sie damals, was wenig wahrscheinlich ist, der Fahndung Dortus? Oder war sie zu dieser Zeit im Einsatz und wurde erst nach Niederschlagung des Aufstands von ihrem Besitzer nach Hause mitgenommen? Die auf dem Gewehrschaft eingeritzten Initialen J. S. deuten auf ein Mitglied der Familie Seyfarth hin.

 

Bürger empfinden Verhaftungswelle als Terror.
Gernsbach wird Frontstadt.

Am 24. Juni 1849 kam es zur Verhaftung von elf reaktionären Beamten, denen man vorwarf, sich negativ über die demokratische Regierung in Karlsruhe zu äußern und die Bürger einzuschüchtern mit der Drohung einer baldigen Rückkehr des alten Regimes und des Großherzogs. Der zweithöchste Bezirksbeamte Ludwig Dill und der evangelische Diakon Dr. Friedrich Kayser, beide wohnhaft in Gernsbach, haben uns Berichte über ihre Verhaftung hinterlassen.

Ludwig Dill schreibt, er sei „in der Nacht des 24. auf den 25. Juni mit etwa 30 Bewaffneten zum Entsetzen meiner armen Familie aus dem Bette geholt und mit noch zehn anderen Leidensgefährten auf Leiterwagen in die Festung Rastatt“ gebracht worden. Diakon Kayser schildert das Ereignis noch drastischer: „Wir hatten uns kaum drei Stunden zur Ruhe begeben, da erwachten wir über furchtbarem Gepolter an unsern Fensterläden.“ Der Diakon wohnte mit seiner Familie in der Schlossstraße. Als seine Ehefrau ein Fenster öffnete, blickte sie mit Entsetzen auf eine Masse von Bewaffneten. Nach „donnernder“ Aufforderung, die Tür zu öffnen, trat Max Dortu (vom 17. bis 25. Juni Militärbefehlshaber des Murgtals) ein, um den Geistlichen zu verhaften. „Dem Flehen, den Thränen, den Fragen meiner armen Frau setzte er barsche rauhe Antworten entgegen“, wie Kayser schreibt.

Die Gefangenen wurden zunächst in Dortus Büro zusammengeführt, das sich in der Gastwirtschaft „Badischer Hof“ (Areal der heutigen Amtsstraße Nr. 23) befand. Dieses Gasthaus gehörte dem Bierbrauer und stadtbekannten Republikaner Gustav Wallraff. Neben Dill und Kayser wurden noch Amtsrevisor Herbster, Bezirksförster Eichrodt, Steuereinnehmer Bürck, Lehrer Buhlinger (alle von Gernsbach), Schlossinspektor Vogt und Gärtner Fels von Schloss Eberstein, Förster Beckmann und Pfarrer Weingärtner (beide von Weisenbach) festgenommen. Die Verhaftung des Weisenbacher Pfarrers Franz Xaver Weingärtner ist uns sogar in einem Bild überliefert. Er wird vor seiner Pfarrkirche St. Wendel von Bewaffneten festgehalten, während seine Haushälterin mit flehend erhobenen Händen aus dem Pfarrhaus stürzt. Ob sich Weingärtner durch antidemokratische Predigten oder, wie Diakon Kayser, durch öffentliche Gebete für den Großherzog unbeliebt gemacht hatte, ist nicht bekannt.

Dortu, der die Bevölkerung mit seinem entschiedenen Vorgehen zusammenschweißen und auf den bevorstehenden Kampf einschwören wollte, erreichte eher das Gegenteil: Seine Maßnahmen wurden von den meisten als Terror empfunden und brachten die Freiheitsbewegung bei den auf Ruhe und Ordnung fixierten Bürgern noch weiter in Misskredit. Daran änderte auch der wenig später in Gernsbach eintreffende Brief nichts, worin Ludwig Dill seiner Frau berichtete, er sei mit den übrigen Gefangenen in Rastatt im Gasthaus „Kreuz“ untergebracht, und alle würden „aufs freundlichste“ behandelt. Wenig später allerdings mussten die Häftlinge in Rastatt miterleben, wie zwei angebliche Spione von aufgebrachten Volksmassen vor ihren Augen gelyncht wurden. Dass Dill und seine Mitgefangenen schon am 29. Juni nach Freiburg gebracht und am 1. Juli unbeschadet freikommen würden, konnte zu diesem Zeitpunkt niemand voraussehen.

Inzwischen rückte die Front immer näher. Die badische Regierung hatte im Juni 1849 als militärischen Oberbefehlshaber den polnischen General Ludwig Mieroslawski gewonnen, der 1830 im polnischen Aufstand gegen Russland und 1848/49 in verschiedenen europäischen Freiheitskriegen gekämpft hatte. Die Revolutionäre wurden von drei Armeekorps angegriffen: zwei preußischen unter dem Befehl von Prinz Wilhelm von Preußen, dem späteren Kaiser Wilhelm I., und dem sogenannten Neckarkorps, das aus Truppen mehrerer deutscher Fürstentümer bestand. Ein preußisches Korps besetzte die Pfalz in wenigen Tagen und überschritt den Rhein am 20. Juni bei Germersheim. Die anderen beiden Korps durchbrachen die von Mieroslawski verteidigte Neckarlinie. Das badische Heer lief Gefahr, von feindlichen Truppen eingekesselt zu werden.

Bei Waghäusel kam es am 21. Juni 1849 zu einer Schlacht, die zunächst erfolgreich für das badische Revolutionsheer verlief, dann aber in einer schweren Niederlage endete. Mieroslawski zog seine Truppen nach Süden zurück. Entlang der Murg zwischen Steinmauern und Gernsbach versuchte er, eine neue Front aufzubauen. Die Verteidigung von Gernsbach sollte der Pfälzer Freischarenführer Ludwig Blenker übernehmen, der am 26. Juni 1849 mit einer Einheit Pfälzer Volkswehr in die Stadt einrückte. Mit Befremden bemerkten die Gernsbacher unter den Kämpfern auch eine bewaffnete Frau in Hosen: Blenkers Ehefrau Elise.

 

Denkmal Muggensturm 2

Das heute versteckt liegende Denkmal an der Bahnlinie Rastatt-Muggensturm für 14 gefallene Preußen zeugt von den heftigen Kämpfen an der Murg.

Gewehr 3

Das badische Infanteriegewehr M1816/40 (Länge 144 Zentimeter) wurde über Generationen hinweg in der Gernsbacher Familie Seyfarth aufbewahrt.

Bild Ludwig Blenker und Frau

Das Bild zeigt badische Revolutionsführer im Jahr 1849, darunter Ludwig Blenker (zweiter von links) und seine Frau Elise (zu Pferd neben ihm). Zu sehen ist auch Franziska Anneke, eine weitere Frau, die ihrem Mann in den Krieg folgte.

 

Einquartierungen und Plünderungen. Letzte Hoffnung Württemberg.Gernsbach am Vorabend der Katastrophe.

Am 26. Juni 1849 zog Oberst Ludwig Blenker mit etwa 1500 Mann pfälzischer Volkswehr in Gernsbach ein. Dazu kam noch ein Trupp schwäbischer Freischärler. Die Wehrmänner mussten auf Kosten der Stadt untergebracht und verpflegt werden. Gemeinderat und Bürgermeister sahen sich mit enormen logistischen Problemen konfrontiert, stellenweise herrschten in der Stadt und auf dem Rathaus chaotische Zustände. Manche Mitglieder des ersten Aufgebotes aus dem Amtsbezirk Gernsbach versuchten, in ihren Heimatgemeinden unterzutauchen. Andere mussten sich der Mannschaft Blenkers anschließen. Die Bereitschaft dazu hielt sich in Grenzen, wozu auch das für die Bürger befremdliche Auftreten von Blenkers Frau Elise beitrug.

Ein Offizier des Neckarkorps erinnerte sich wenig später, Frau Blenker sei ihrem Mann als „Amazone“ zu Pferde gefolgt, „eine weiße Feder auf dem Hute, Säbel um und Pistolen im Gurte“ und habe auf Schloss Eberstein geplündert. Der Gernsbacher Metzger Karl Rothengatter bezeugte später vor Gericht, dass Bürgermeister Drissler sich einer solchen Plünderung heftig widersetzt habe, und daraufhin von Elise Blenker, die „eine starke Bedeckung von Bewaffneten um sich“ gehabt habe, mit „Verschießen“ bedroht worden sei. Nach einer Liste von Amtmann Dill ließen die Blenkers Wertgegenstände wie mittelalterliche Rüstungen und Waffen, Kleidungsstücke des Großherzogs, „Eau de Cologne und sonstige Parfümerien“ und diverse Kunstgegenstände aus dem Schloss herausholen und abtransportieren. Damit erweckten sie den Eindruck, als sei mit der baldigen Einnahme der Stadt zu rechnen, was viele Bürger entmutigte.

Ludwig Mieroslawski, der Oberbefehlshaber der Revolutionsarmee, hatte sich mit seinen Truppen auf die Murglinie zwischen Steinmauern und Gernsbach zurückgezogen. Von den Höhen im Osten konnte nur ein Angriff erfolgen, wenn Württemberg die Feinde durch sein Gebiet marschieren lassen würde. Der württembergische Regierungschef Wilhelm Römer hatte zwar Neutralität zugesagt, aber andererseits am 18. Juni das aus Frankfurt nach Stuttgart ausgewichene deutsche Nationalparlament durch Soldaten gewaltsam auflösen lassen. Die Zusage Römers war also zweifelhaft, aber den Aufständischen blieb mangels anderer Alternativen nur die Hoffnung auf Württembergs Neutralität. Diese Hoffnung wurde kurze Zeit später enttäuscht, was vorhersehbar gewesen war.

Realistischerweise war ein erfolgversprechender Angriff auf Gernsbach nur von Osten her möglich, also von Württemberg aus. Im Norden war der Raum zwischen Gebirge und Fluss für einen Angriff zu eng. Am 28. Juni schrieb Ludwig Blenker an Oberbefehlshaber Mieroslawski, er rechne „in jedem Moment“ mit einem Angriff aus Loffenau, dem Gernsbach nächsten Ort hinter der Grenze zu Württemberg, den die Württemberger mit 800 Mann Infanterie und drei Kanonen besetzt hielten. Blenker begab sich an die Grenze und verhandelte mit dem württembergischen Kommandanten, der sich bezüglich der möglichen Haltung Württembergs allerdings nicht festlegen wollte. Blenker ging vom Schlimmsten aus und bat Mieroslawski dringend darum, ihm Verstärkung zu schicken.

Diese Bitte wurde, wenn überhaupt, nur ungenügend erfüllt, da es an verfügbaren Truppen fehlte. Mieroslawskis Heer war seit der verlorenen Schlacht von Waghäusel hauptsächlich durch Desertionen auf weniger als die Hälfte zusammengeschmolzen. Laut seiner eigenen Aussage hatte er nur noch 13.000 Mann und etwa 60 Geschütze zur Verfügung. Diesen Streitkräften standen etwa 60.000 Preußen und Reichstruppen mit mehr als 100 Geschützen gegenüber. Zwei preußische Armeekorps (mehr als 40.000 Mann) unter dem Befehl von Kronprinz Wilhelm von Preußen rückten von Norden her durch die Rheinebene zum Sturm auf die Murglinie vor. Das dritte Armeekorps, das sogenannte Neckarkorps, bestehend aus verschiedenen Reichstruppen (Preußen, Bayern, Württemberger, Hessen, Meckenburger), marschierte unter dem Befehl des preußischen Generals Eduard von Peucker am 28. Juni von Ettlingen aus das Albtal hinauf.

Das Neckarkorps sollte durch den Marsch über Herrenalb und Loffenau eine günstige Angriffsposition auf die Murgfront erreichen, bei Gernsbach den Fluss überschreiten, dadurch in den Rücken der Aufständischen gelangen und möglichst rasch über das Gebirge nach Oos vorstoßen. Gleichzeitig sollten die beiden preußischen Armeekorps die Murg von Norden her überschreiten. Auf diese Weise sollten die badischen Freiheitskämpfer zwischen den drei Armeekorps eingekesselt und in die Festung Rastatt hineingetrieben werden. Die war zwar noch von Revolutionären besetzt, aber würde, so die Überlegung der Preußen, bei einer Belagerung früher oder später kapitulieren müssen.

 

Elise Blenker

Elise Blenker bei der Plünderung von Schloss Eberstein. Zeitgenössische Lithografie.

 

Der Angriff auf Gernsbach am 29. Juni 1849
Stadt leistet vier Stunden Widerstand gegen sechsfache Übermacht.

Der Angriff auf Gernsbach erfolgte durch das „Neckarkorps“. Es bestand aus preußischen, bayerischen, hessischen, mecklenburgischen und württembergischen Truppen und hatte vorher an der Neckarfront gekämpft. Dieses Korps marschierte am 28. Juni 1849 von Ettlingen aus durch das Albtal. Ziel war, Gernsbach, die östliche Schüsselstellung der Murgfront, einzunehmen, den Aufständischen in den Rücken zu fallen und möglichst rasch bis Oos durchzustoßen. Die Aufständischen sollten aufgerieben werden zwischen dem Neckarkorps und den beiden preußischen Armeekorps, die von Norden her die Murglinie attackieren würden.

Das Neckarkorps marschierte über Herrenalb nach Loffenau, also über württembergisches Gebiet. Geplant war ein Überraschungsangriff in der Nacht auf den 29. Juni 1849. In Gernsbach war man darauf nicht vorbereitet. Erst gegen Mittag des 29. Juni wurden die Bewohner zum Bau von Barrikaden aufgefordert. Glücklicherweise verspätete sich der Angriff. General Peucker, der Kommandeur des Neckarkorps, hatte die Unterstützung von preußischen Truppen eingeplant, die inzwischen Michelbach eingenommen hatten. Das Dorf wurde aber am 28. Juni von den Aufständischen in hartnäckigem Kampf zurückerobert. Die Preußen zogen sich erschöpft in Richtung Freiolsheim zurück und standen für den Nachtangriff nicht mehr zur Verfügung. Daher erfolgte der Angriff auf Gernsbach erst am 29. Juni um halb drei Uhr nachmittags.

Die Vorhut kam in drei Heersäulen: Etwa 880 Preußen, 510 Hessen und 110 Mecklenburger mit acht Geschützen marschierten über den Kugelberg und nahmen zunächst am westlichen Berghang nördlich des Leutersbaches Aufstellung. Etwa 800 Hessen, Mecklenburger und Württemberger rückten mit vier Geschützen auf der Straße von Loffenau über das „Krummeck“ und den Kelterberg heran. Etwa 2000 Hessen, Bayern und Mecklenburger nahmen den Weg von Loffenau aus über die Alte Weinstraße. Der dreigeteilten Vorhut folgte die Hauptmasse des Korps in zwei Abteilungen. Im Ganzen zählten die Angreifer rund 12.000 Mann Infanterie und 600 Reiter mit 16 Geschützen, während in Gernsbach unter dem Befehl von Ludwig Blenker wohl nicht mehr als 2000 Volkswehrmänner und Freischärler mit höchstens sechs Geschützen standen.

Nach Abschuss einiger Granaten vom Kugelberg aus zog man die Geschütze den Berghang hinunter in die Nähe des nördlichen Eingangs der Vorstadt Bleich. Von dort konnte die Artillerie der Aufständischen auf den Höhen links der Murg wirksam beschossen werden, aber auch die Gernsbacher Vorstadt rechts der Murg, wo das Geschützfeuer einen Brand verursachte, der sich rasch ausbreitete. Preußische Soldaten kämpften sich durch die brennende nördliche Vorstadt bis zur Stadtbrücke vor, die teilweise unpassierbar gemacht und am linken Ende verbarrikadiert worden war. Zeitgleich besetzten Einheiten vom Kugelberg her die sogenannte untere Sägemühle gegenüber dem Weinauer Hof (heute Areal der Firma Glatfelter), wateten von dort durch die Murg und nahmen die Stadt von Norden und Westen her in die Zange.

Die mittlere, über die Chaussee von Loffenau her anrückende Kolonne beschoss die südliche Vorstadt und die obere Sägemühle (etwa am Platz der heutigen Klingelmühle) vom Kelterberg aus, besetzte die mit Aufständischen besetzten Häuser der Vorstadt Igelbach und durchwatete die Murg oberhalb der Stadtbrücke. Die Einheiten, die über die Alte Weinstraße gekommen waren, beschossen die Stellungen der Aufständischen auf den gegenüber liegenden Höhen, wateten gegenüber der oberen Sägemühle durch die Murg, besetzten die Mühle und das Badhaus (auf dem Areal des heutigen Badhauswegs) und drangen dann über die Schlossstraße in Gernsbach ein. Die von Süden und Norden links der Murg eingedrungenen Gegner trafen sich auf dem Markt und an der Hofstätte. Die Barrikade an der Stadtbrücke wurde entfernt. Kurz nach sechs Uhr abends befand sich Gernsbach in den Händen der Angreifer. Die Aufständischen zogen sich über die Straße in Richtung Staufenberg und über die „Nachtigall“ ins Rheintal zurück.

Das Gefecht um Gernsbach dauerte fast vier Stunden, was angesichts der etwa sechsfachen Übermacht erstaunlich ist. Ein effektiver Widerstand ging von den Scharfschützen aus, die sich nach Guerillataktik in den Häusern rechts und links der Murg verschanzt hatten. Auch die Verzögerung des Angriffs durch das Gefecht von Michelbach spielte eine Rolle, da das Überraschungsmoment wegfiel und den Aufständischen mehr Zeit für Verteidigung und Rückzug blieb. Dennoch war die Einnahme Gernsbachs kriegsentscheidend, da die Murglinie nicht mehr zu halten war.

 

Bild unten:

Vom evangelischen Friedhof Gernsbach ist gut zu erkennen, wie die Angreifer am 29. Juni 1849 von Loffenau aus Gernsbach auf breiter Front angriffen, nämlich über den Kugelberg (links), den Kelterberg (Mitte) und den Fechtenbuckel (rechts)

 

Gefecht 29. Juni Angriff
Straßenschild Johann Karl Drissler 2

Nachspiel: Wirtschaftlicher Ruin und politischer Rückzug.
Die Folgen der Revolution 1848/49 für Gernsbach.

Die Einnahme von Gernsbach am 29. Juni 1849 hatte schwerwiegende Folgen. Gernsbach rechts der Murg war zum großen Teil niedergebrannt. 20 Häuser und 12 Nebengebäude fielen den Flammen zum Opfer. Der Brand hatte aber noch eine weitere fatale Wirkung: Bei den badischen Freiheitskämpfern, die sich gerade zwischen Niederbühl, Kuppenheim und Rotenfels gegen eine preußische Übermacht behaupten mussten, breitete sich beim Anblick der weithin sichtbaren Rauchsäulen über Gernsbach die Gewissheit der endgültigen Niederlage aus. Die Hiobsbotschaft „Wir sind umgangen, wir sind verrathen!“ verbreitete sich laut Augenzeugen wie ein Lauffeuer und machte die Disziplin der Aufständischen vollständig zunichte.

Nach den Kirchenbüchern kamen sechs Gernsbacher zwischen 15 und 64 Jahren am 29. Juni 1849 ums Leben. Sie wohnten in der Igelbach-, Bleich- und Schlossstraße, also dort, wo die feindlichen Truppen in die Stadt eingedrungen waren. Von den gefallenen Freiheitskämpfern kennen wir nur drei (Peter Späth aus Mörlenbach/Odenwald, Jakob Schuck aus Darmstadt, Josef Schäfer aus Öhningen bei Radolfzell). Sie starben an ihren Verwundungen im Gernsbacher Spital (heute Waldbachstraße 45) und wurden auf dem evangelischen Friedhof begraben.  Ein „Kaufmannssohn aus Hamburg“ wurde an der Alten Weinstraße bei einem Gefecht von Mecklenburger Reichstruppen erschossen. An ihn erinnert ein Gedenkstein mit Kreuz nahe der Illertkapelle in Lautenbach. Vier namenlose Aufständische lagen laut einem zeitgenössischen Kriegsbericht tot an der Stadtbrücke. Laut der Inschrift des 1928 errichteten Gedenksteins auf dem evangelischen Friedhof kamen 16 Freiheitskämpfer ums Leben. Von den Preußen und Reichstruppen fielen sieben Soldaten und Offiziere, unter ihnen Johann Joachim Heinrich Zabel aus Körchow im Amt Wittenburg (nicht weit von Schwerin). Das aufwändige Grabmal, das der Großherzog von Mecklenburg-Schwerin ihm errichten ließ, ist auf dem katholischen Friedhof noch erhalten.

Die Sieger fühlten sich als Bezwinger einer unbotmäßigen Bevölkerung, die böswillig einen Bürgerkrieg heraufbeschworen hatte, und verhielten sich dementsprechend. Franziska Seyfarth, die Ehefrau von Wilhelm Seyfarth (Siebmacher und Wirt des Gasthauses „Bock“ am Markt), berichtete, die Soldaten hätten die Werkzeugmaschinen ihres Mannes im Wert von 10.000 Gulden zerschlagen und die gesamten Weinvorräte geplündert. Ähnlich wüteten die Besatzer auch in anderen Häusern. Ein preußisches Bataillon (etwa 900 Mann) sowie ein General mitsamt seinem Stab wurden in Gernsbach einquartiert. Darüber hinaus sollte die Stadt auch noch für die Verpflegung von weiteren 10.000 Soldaten aufkommen.

Etliche Bürger wanderten für ihre Verstrickung in die Revolution ins Zuchthaus. Die höchsten Strafen erhielten Wilhelm Rothengatter (Polizeiwachtmeister, neun Jahre), Raphael Weil (Ratsschreiber, 18 Jahre), Carl Drissler (Bürgermeister, sechs Jahre), Dr. Franz Kürzel (praktischer Arzt, vier Jahre) und Benedikt Kaufmann (jüdischer Handelsmann, drei Jahre). Rothengatter und Weil flohen in die USA. Andere mussten einen großen Teil ihrer Strafe verbüßen, wobei die oft lange Untersuchungshaft bis zu den im Januar 1852 gefällten endgültigen Urteilen nach damaligem Rechtsbrauch nicht auf die Strafe angerechnet wurde! Hinzu kam, dass den Verurteilten auch nach Verbüßung ihrer Strafe für Jahre die bürgerlichen Rechte entzogen blieben, was ihnen zum Beispiel die Führung eines selbständigen Geschäftes und damit die bürgerliche Existenz unmöglich machte! Darüber hinaus zog der Staat die Verurteilten auch für den durch den Aufstand verursachten Schaden zur Verantwortung und zog große Teile ihrer Vermögen ein. Murgschiffer Casimir Griesbach musste 50.000 Gulden (etwa ein Drittel seines Vermögens) zahlen!

Etliche Bürger wanderten für ihre Verstrickung in die Revolution ins Zuchthaus. Die höchsten Strafen erhielten Wilhelm Rothengatter (Polizeiwachtmeister, neun Jahre), Raphael Weil (Ratsschreiber, 18 Jahre), Carl Drissler (Bürgermeister, sechs Jahre), Dr. Franz Kürzel (praktischer Arzt, vier Jahre) und Benedikt Kaufmann (jüdischer Handelsmann, drei Jahre). Rothengatter und Weil flohen in die USA. Andere mussten einen großen Teil ihrer Strafe verbüßen, wobei die oft lange Untersuchungshaft bis zu den im Januar 1852 gefällten endgültigen Urteilen nach damaligem Rechtsbrauch nicht auf die Strafe angerechnet wurde! Hinzu kam, dass den Verurteilten auch nach Verbüßung ihrer Strafe für Jahre die bürgerlichen Rechte entzogen blieben, was ihnen zum Beispiel die Führung eines selbständigen Geschäftes und damit die bürgerliche Existenz unmöglich machte! Darüber hinaus zog der Staat die Verurteilten auch für den durch den Aufstand verursachten Schaden zur Verantwortung und zog große Teile ihrer Vermögen ein. Murgschiffer Casimir Griesbach musste 50.000 Gulden (etwa ein Drittel seines Vermögens) zahlen!

Die Gerichtsakten sind voll von unterwürfig formulierten Gnadengesuchen und Bitten um Wiedereinsetzung in die bürgerlichen Rechte. Die Verurteilten hatten zum größten Teil mit den revolutionären Behörden zusammengearbeitet, um die Reichsverfassung und mit ihr Recht und Ordnung aufrecht zu erhalten. Nun mussten sie, um begnadigt zu werden, dieses Verhalten in aller Öffentlichkeit zutiefst bereuen. Das Streben nach Grundrechten und Demokratie wurde als Verbrechen gebrandmarkt. Das konnten viele nicht verarbeiten. Verbittert zogen sie sich ins Privat- und Wirtschaftsleben zurück und wollten von politischem Engagement nichts mehr wissen. Dabei wurden die Werte, für die sich eingesetzt hatten, zum Fundament  einer freiheitlich demokratischen Grundordnung – aber erst viel später! Sowohl die Verfassung der Weimarer Republik als auch das Bonner Grundgesetz von 1949 nahmen sich die Verfassung von 1848/49 zum Vorbild!

 

Straßenname in der Gernsbacher Nordstadt. Späte Ehrung für einen demokratischen Bürgermeister.

© Cornelia Renger-Zorn 1999-2024
letzte Aktualisierung: 1. Oktober 2024