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Deutscher, Jude, Freigeist Walter Ernst-Moritz Neter – vergessener Schriftsteller aus Gernsbach.
In der jüdischen Familie Neter, wohnhaft in Gernsbach im Markt, wurde als sechstes von elf Kindern am 14. Januar 1878 ein Sohn geboren, der den Namen Moritz erhielt. Aus Gründen, über die man nur spekulieren kann, änderte er 1912 seinen Vornamen in „Walter Ernst-Moritz“ um. Neter wurde Jurist und schrieb einige Bücher, in denen er auch seine Heimat Gernsbach treffend beschrieb und die zu Unrecht heute vergessen sind.
Die Familie Netter (seit 1877 Neter) war um 1803 aus Bühl zugewandert. Raphael Netter (1774-1834) betrieb einen Eisenhandel. Von seinen Steuern wurde die Straßenpflasterung in Hörden und Scheuern mitfinanziert. Raphaels Sohn Isaak (1804–1875), ebenfalls Eisenhändler, besaß gemäß der Gernsbacher Volkszählung von 1848 ein Haus am Marktplatz. Laut dem Geburtsbuch der israelitischen Gemeinde Gernsbach hatte er mit seiner Frau Gutel zwischen 1836 und 1845 zehn Kinder, von denen sieben im Säuglingsalter starben. Sein Sohn Eli (1837-1908) übernahm das Geschäft und hatte mit seiner Frau Auguste Sinauer zwischen 1866 und 1883 elf Kinder, von denen zwei im Kindesalter starben und zwei im Holocaust ermordet wurden. Nach dem Tod seiner Frau 1896 zog sich Eli zurück, das Geschäft wurde in Mannheim von Sohn Josef (1872-1921) weitergeführt. Das bekannteste Mitglied der Familie ist Eugen Neter (1877-1966), Kinderarzt in Mannheim, der seine Schützlinge 1940 freiwillig (er war mit einer Nichtjüdin verheiratet) ins Konzentrationslager Gurs begleitete und später nach Israel auswanderte. Ein Begriff in der Region ist auch die Neter-Hütte nahe Gernsbach auf dem Weg zur Nachtigall, eine Stiftung der gleichnamigen Familie.
Wenig bekannt ist dagegen Walter Ernst-Moritz Neter (1878-1956). Nach dem Abitur am Gymnasium Rastatt 1896 studierte er in München, Heidelberg, Berlin und Freiburg Jura und legte nach sieben Semestern das erste Staatsexamen ab. In München qualifizierte er sich durch einen freiwilligen einjährigen Militärdienst (1896/97) beim ersten bayerischen Infanterie-Regiment „König“ zum „Vizefeldwebel der Reserve“ und damit zum Offiziersanwärter. Im Wilhelminischen Deutschland war ein militärischer Rang für eine Beamtenkarriere fast unverzichtbar. Später gehörte Neter zur 56. Infanterie-Brigade in Rastatt. Seine Dienstplicht bei der Landwehr endete im März 1917. Er könnte also am Krieg teilgenommen haben. Dafür spricht seine Mitteilung vom Februar 1925 an das badische Justizministerium, er sei seit dem Krieg in seinem Gehör derart beschränkt, dass ihm die „die Ausübung einer forensischen (also gerichtlichen) Tätigkeit in hohem Maße erschwert wäre“.
Im April 1900 begann Neter seinen Vorbereitungsdienst für das zweite Staatsexamen am Amtsgericht Gernsbach mit einem Eid auf Großherzog und Vaterland. Bis 1903 durchlief er mehrere Praktika bei der Staatsanwaltschaft Waldshut, dem Bezirksamt Pforzheim, dem Oberlandesgericht Karlsruhe und dem Notariat Gernsbach. Dazwischen wurde er im Juli 1901 noch von der Universität Heidelberg zum Doktor „beider Rechte“ promoviert. Im November 1903 absolvierte er die zweite Staatsprüfung mit der Benotung „hinlänglich befähigt“ (von 43 Prüflingen rangierte er immerhin auf Rang 24). Mit einer solchen Note habe ein „Referendär“, wie er 1917 in der gleichnamigen Erzählung in seinem Novellenband „Der Geigenkasten“ schrieb, nur zwei Möglichkeiten: „den gewagten und mühereichen Versuch machen, eine Rechtsanwaltskanzlei aufzutun, oder sechs Jahre in vorgezeichnetem Trott sich den Rücken seines Vordermannes anzusehen und dabei brav und schön auf der Stelle zu treten“. |
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Zunächst ließ sich Neter als Rechtsanwalt in Baden-Baden nieder, 1906 bis 1914 ist er dort in den Adressbüchern nachgewiesen. Im Adressbuch von 1914 ist er sogar im Verein für Feuerbestattung als stellvertretender Vorsitzender angegeben. Er stand den jüdischen Religionsgesetzen also distanziert gegenüber, nach denen die Verbrennung für Juden streng verboten ist. Als Anwalt kümmerte er sich offenbar auch um Gernsbach. 1907 stand die Frage im Raum, ob eine Eingemeindung Scheuerns nach Gernsbach wegen Vereinfachung der Verwaltung nicht vorteilhaft sei. Die Frage wurde im Scheuerner Rathaus debattiert. „Dr. Neter, Rechtsanwalt in Baden, der die hiesigen Verhältnisse genau kennt, hat sein Erscheinen zugesagt“, wie der Murgtäler Bote berichtete.
Am 23. August 1912 änderte Neter mit Erlaubnis des badischen Justizministeriums seinen Vornamen von „Moritz“ in „Walter Ernst-Moritz“ um. In diesem Jahr veröffentlichte Walther Rathenau (1867-1922, Industrieller, Schriftsteller, Politiker, 1922 als Außenminister von rechtsnationalen und antisemitisch gesinnten Kräften ermordet) seine Betrachtung „Zur Kritik der Zeit“. Darin prangerte er die Mechanisierung und Seelenlosigkeit des technischen Zeitalters an. Fühlte sich Neter eventuell mit Rathenau seelenverwandt? 1933 veröffentlichte er ein Buch mit ähnlichem Thema: „Flucht aus der Technik. Vom sterbenden und werdenden Zeitgeist“, das vom renommierten Dresdner Carl Reissner Verlag als „seelischer Aufbruch und Fanfare einer neuen Epoche“ angekündigt wurde. Oder wählte er den Vornamen Walter wegen der leichteren englischen Ausssprache? Der zweite Vorname „Ernst-Moritz“ sollte wohl an den demokratisch und national gesinnten Dichter Ernst-Moritz Arndt (1769-1860) erinnern.
1923 bis 1925 erscheint Neter als Rechtsanwalt im Karlsruher Adressbuch. 1925 beantragte die badische Anwaltskammer beim badischen Justizministerium, Neter aus der Liste der zugelassenen Anwälte zu streichen, da er sich „seit Jahr und Tag“ vom „dienstlichen Wohnsitz“ entfernt habe (Neter war am Amtsgericht Baden-Baden und am Landgericht Karlsruhe zugelassen), seine Praxis nicht ausübe und seine Kammerbeiträge nicht bezahle. Über seinen Verbleib heißt es: „Wie wir hören, soll er jetzt in Dresden sein und zwar bei der Cigarettenfabrik Kiriatzi.“
Neter antwortete dem badischen Justiministerium von Dresden aus. Seine Anwaltspraxis, so erklärte er, habe er aufgegeben, da er seit dem Krieg an einem Gehörschaden leide und sich daher „dem schriftstellerischen Beruf zugewandt“ habe. Mit einer Zigarettenfabrik Kiriatzi habe er nichts zu tun, fuhr er fort, da es eine solche Firma gar nicht gebe. Auch wenn sich die Kammer im Namen geirrt hatte, ganz grundlos wird sie nicht zu ihrer Annahme gekommen sein, denn Dresden war zu dieser Zeit ein Zentrum der Zigaretten- und Tabakindustrie. Auf eine Verbindung Neters zu dieser Branche deutet eine Widmung in einem Exemplar seiner Novellensammlung „Der Geigenkasten“ hin: „Weihnachtsgabe und Gruß aus der Heimat überreicht von A. Batschari G.m.b.H. Cigarettenfabrik, Weihnachten 1917, Baden-Baden“. Dem Baden-Badener Zigarettenfabrikanten und Mäzen August Batschari gefiel das 1917 veröffentlichte Buch Neters offenbar so gut, dass er es seinen Kunden und Geschäftspartnern als Weihnachtsgeschenk überreichte. |
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Dem alten Rieger war’s zu ungemütlich geworden in seinem großen, alten Patrizierhaus, dort am Marktplatz“, heißt es in Walter Neters Erzählbändchen „Der Geigenkasten“ von 1917. Dort entwirft er ein kritisches, aber auch sympathisches Bild seiner Eltern: dem Vater Eli Neter, der sich, vom Tod seiner Frau Auguste 1896 überfordert, vom Geschäft zurückzog, und der Mutter, einer „echt deutschen Hausfrau“, im Geschäft „treuer Kamerad“, zu Hause liebende Frau. Für Neter war sein Elternhaus die „Villa Augusta“ (so gab er seine Adresse 1901 gegenüber dem Justizministerium an).
Neters Erzählungen erinnern an Berthold Auerbach, sind aber nach einer Kritik von 1922 im Karlsruher Wochenblatt „Die Pyramide“ viel weniger „beschaulich“. Bei Auerbach werden zwei verfeindete Brüder durch den Pfarrer wieder versöhnt, bei Neter durch eine Frau: Der kleine Sohn einer Frau in Geburtsnöten läuft zum Nachbarn, der ein Telefon hat. Der aber ist mit dem Mann der Gebärenden verfeindet und weist das Kind ab. Erst das Eingreifen seiner Frau stimmt ihn um. Die Erlösung durch die liebende Frau mit gesundem Menschenverstand und dem Herz auf dem rechten Fleck ist für Neter ein immer wiederkehrendes Motiv.
Ein anderes Prinzip Neters ist die Forderung an jeden Einzelnen, sich seines Verstandes zu bedienen. In seiner 1919 erschienenen Epistel „Nur darum mag uns keiner draussen“ untersucht er, warum die Deutschen (wozu er sich selbst zählte) in der restlichen Welt so unbeliebt seien. Den Hauptgrund sah er in der Vorherrschaft des Militärischen im Staat und in der konsequenten Erziehung der Deutschen zu obrigkeitshörigen Jasagern, zu „Staatshammeln“. Die Entwicklung zur selbstbestimmten, kritikfähigen Persönlichkeit beschreibt er in seinem packenden Abenteuerroman „Longin“ von 1922.
1925 bis 1938 lebte Neter als Schriftsteller in Dresden. 1933 erschien sein zeitkritisches Werk „Flucht aus der Technik. Vom sterbenden und werdenden Zeitgeist“. Ab 1930 zeigen die Adressbücher der Stadt allerdings eine andere Berufsangabe, nämlich „Syndikus“, also Rechtsberater eines Unternehmens. Die Anwaltskammer in Karlsruhe vermutete bereits 1925, Neter stehe im Dienst der Zigarettenfabrik „Kiriatzi“. Eine solche gab es zwar nicht, aber dafür die ägyptische Firma Kyriazi mit Zweigbetrieben in Amsterdam, Hamburg und London. Auch war Dresden zu dieser Zeit ein Zentrum der Zigaretten- und Tabakindustrie. Berufliche Verbindungen Neters zu dieser Branche sind denkbar. Bereits 1917 war er als Schriftsteller vom renommierten Baden-Badener Zigarettenfabrikanten August Batschari gefördert worden.
Im November 1939 floh Neter nach England. Das Einwohnerregister weist ihn als „solicitor“ aus (im englischen Rechtssystem ein beratender Anwalt, der nicht vor Gericht auftritt). Verheiratet war er laut Register mit Christine, Jahrgang 1900, Beruf „Hausfrau ohne Einkommen“. Neter starb am 19. Februar 1956 in Hendon oder Enfield (Stadtteile im Norden Londons), sein Nachlass betrug 1217 englische Pfund. Seine Bücher sind immer noch lesenswert, besonders die Beschreibungen seiner Heimat Gernsbach: „Auf der Anhöhe draußen lag dieser Friedhof, als ob die Bewohner des Städtchens, die wenig herauskamen aus ihrer kleinlich-muffigen Atmosphäre… einmal im Leben wenigstens frei hinausschauen sollten ins Weite. Ins Schöne …“
Walter Neter gegen Baden-Württemberg Der Kampf eines Gernsbacher Juden um Entschädigung
Walter Neter (1878-1956), promovierter Jurist und ein Sohn der Gernsbacher jüdischen Familie Neter, wanderte 1939 angesichts der massiven Judenverfolgung in Deutschland nach England aus. Das rettete ihm das Leben, ruinierte aber seine materielle Existenz. In der Bundesrepublik musste er später, wie die Akten im Generallandesarchiv Karlsruhe zeigen, jahrelang um eine angemessene Entschädigung kämpfen.
Von 1926 bis 1938 bezog Neter als Syndikus des Verbandes der deutschen Zigarettenindustrie in Dresden ein Jahresgehalt von 9600 Reichsmark, was dem Gehalt eines höheren Beamten entsprach. Die „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ vom 12. November 1938 verbot die Beschäftigung von Juden in verantwortungsvollen Positionen. Der damalige Geschäftsführer des Zigarettenverbandes sagte 1953 aus, Neter habe ihm im November 1938 eröffnet, „dass er Jude sei und dass er mit Rücksicht auf sich, ebenso wie auch mich, es nicht mehr länger verantworten könne, in seiner damaligen Stellung zu bleiben“. Das Arbeitsverhältnis wurde einvernehmlich aufgelöst, Neter zog mit seiner Frau Christine (1900-1983, Heirat 1923) bis zur Auswanderung nach Heidelberg.
Das Ehepaar ließ sich dauerhaft im Londoner Stadtteil Finchley nieder. Walter Neter beantragte 1950 über seine Anwälte in Mannheim beim Landesamt für Wiedergutmachung in Karlsruhe Ersatz des ihm durch das Nazi-Regime verursachten finanziellen Schadens. Dabei machte er vier Positionen geltend: 6200 Reichsmark, die er als „Judenvermögensabgabe“ gezahlt hatte. Dabei handelte es sich um eine „Sühneabgabe“, mit der die Juden die Schäden, die sie im Novemberpogrom 1938 erlitten hatten, selbst bezahlen mussten. Ferner hatte er 480 Reichsmark als „Auswandererabgabe“ gezahlt (Zwangsabgabe für emigrierende Juden). Dazu kamen die Kosten von 3000 Reichsmark für Versand und Lagerung von Möbeln , die später im Krieg verloren gingen, sowie Ausgleich des „Schadens im wirtschaftlichen Fortkommen“. Neter hatte durch die erzwungene Auswanderung seine Stellung verloren, also Verdienst und Altersversorgung. Bis 1952 war noch nichts erstattet worden. Die Anwälte baten um rasche Erledigung mit dem Vermerk: „Eilt! Antragsteller über 70 Jahre“. Neter hatte in England keine Arbeit mehr gefunden. Ein englischer Verwandter, Sir Edward Adolphe Sinauer de Stein (Neters Mutter war eine geborene Sinauer), unterstützte ihn eine Zeit lang mit einer jährlichen Rente von 208 Pfund.
Den Ersatz eines Schadens wegen Verhinderung des beruflichen Fortkommens lehnte die Karlsruher Behörde im Februar 1953 mit der zweifelhaften Begründung ab, der Antragsteller sei nicht „infolge von Verfolgungsmaßnamen“ entlassen worden, sondern habe seine Stellung „aus eigenem Entschluss aufgegeben , um Ungelegenheiten wegen seiner jüdischen Abstammung von vornherein aus dem Wege zu gehen.“ Offenbar wies das zugrunde liegende Entschädigungsgesetz Lücken auf, die in der Folge korrigiert wurden. 1954 gewährte das Land Baden-Württemberg dem Antragsteller doch eine Entschädigung für den Wegfall des beruflichen Fortkommens in Höhe von 5116 DM, wobei die Behörde von einem Einkommen bis zum 65. Lebensjahr ausging. Neters Anwälte machten eine höhere Summe geltend, da ihr Mandant, wie sie argumentierten, bis 70 arbeitsfähig gewesen sei. Neter starb 1956, ohne dass zu seinen Gunsten entschieden worden wäre. Die Behörde gestand seiner Witwe daher nur eine monatliche Rente von 103 DM zu. Christine Neter klagte 1957 erfolgreich und erhielt nun eine Rente von 257 DM, die sich im Lauf der Jahre entsprechend erhöhte. Sie schrieb an das Landesamt: „Die mir zuerkannte Rente bedeutet für mich eine wesentliche Erleichterung meiner wirtschaftlichen Lage, und ich bin dankbar dafür.“
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© Cornelia Renger-Zorn 1999-2024 letzte Aktualisierung: 21. Nov. 2024 |
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